Die Gabe der Magie
starrte
sie ungläubig an. »Warum denn das?«
Rinka ließ den Blick durch den Laden
huschen. Es waren gerade keine Kunden da, das Geschäft war also leer. Trotzdem
senkte sie die Stimme. »Einfach nur, um den Reichtum dieser Familie zu
vergrößern.«
Sadima war verblüfft. In Ferne zogen die
Menschen ihre eigenen Kräuter oder pflückten wild wachsende. Es würde sehr
schwer für Sadima werden, ohne Gewürze zu kochen. Sie erzählte Rinka von den geflochtenen
Grasbeuteln mit Kräutern in ihrem Bündel.
Rinka zuckte mit den Schultern und lächelte.
»Vermutlich wird der König keine Bogenschützen und Wachen ausschicken, um eure
kleine Küche zu durchsuchen. Es ist ein schlechtes Gesetz. Eridianer glauben,
dass die Früchte der Erde und des Geistes allen gleichermaßen gehören.«
Sadima sah von der Kupferrinne und dem
eingeschlagenen Ballen, den sie gerade spülte, auf.
Rinka lächelte. »Erides war eine kluge
Frau.«
»Ist sie tot?«, fragte Sadima.
Rinka nickte. »Ja, ja. Sie ist vor
dreihundert Jahren von uns gegangen; sie wurde in der Zeit getötet, die zu
lange her und doch zu nah ist. Aber ihr Wort hat überdauert und ebenso ihr
gutes Herz.«
Sadimas Hände waren nicht untätig
geworden. Unermüdlich schlug sie den Weichkäse fest ein, senkte dann das
Pressbrett und griff schon nach dem nächsten. Sie hatte Rinka fragen wollen, ob
die Frau in der Kutsche recht gehabt hatte und ob die Eridianer tatsächlich Mädchen
in die Stadt holten, um sie zur Ehe zu zwingen. Doch
nun waren ihre Gedanken abgelenkt.
»Lange her und doch zu nah«, wiederholte
sie. »Eine Zigeunerfrau beim Brunnen sagte die gleichen Worte zu mir, als ich
sie fragte, woher sie stamme.«
Rinka lächelte. »Eine eridianische
Zigeunerfrau? Das ist eine Seltenheit. Und sie muss dich gemocht haben.
Eridianer teilen die Weisheit unserer Prophetin nur mit jenen, bei denen sie
sich sicher sind, dass sie sie hören können.«
Sadima lächelte, schwieg aber und dachte
nach. Lange her und doch zu nah. Vielleicht bedeutete das, dass
schlechte Dinge, die geschehen waren, ganz leicht noch einmal passieren
konnten. Diese Vorstellung machte sie traurig.
Als Rinka wieder leise zu summen anfing,
war Sadima erleichtert, von ihren trüben Gedanken abgelenkt zu werden. Dieses
Mal war es eine beruhigende, seltsame, kurze Melodie, die sich immer
wiederholte.
»Gibt es Worte dazu?«, fragte Sadima.
»Nur sinnlose Laute«, erklärte Rinka. Sie
sang sie Sadima vor, und ihre Stimme war klar und rein. »Es ist wie bei diesen
dummen alten Liedern, die uns unsere Mütter lehrten«, sagte sie, als sie fertig
war. »Meine Mutter hat mir dieses Lied vorgesungen, damit ich einschlafen kann.
Bei meinen Töchtern hat es auch gewirkt. Diese Melodie hat etwas an sich –
meine Mutter schwor darauf. Sie war eine Zigeunerin und wunderschön.«
»War sie auch eine Eridianerin?«
Rinka lachte. »Nein, nein, sie nicht. Eine
reine Zigeunerin, die niemandem gegenüber loyal sein musste, keinem Mann oder
Gott und keiner Prophetin, nur ihrem Clan.«
»Ich würde das Lied gerne lernen«, sagte
Sadima, die wusste, dass Franklin ebenso froh über etwas Neues für Somiss wäre wie
über ein richtiges Abendessen.
»Kennst du das hier?«, fragte Rinka und
begann, mit ihrer hohen, reinen Stimme eine andere Melodie zu singen.
Sadima nickte. »Die habe ich schon mal
gehört«, log sie. Sie wollte Rinka nicht erklären, dass sie ohne Mutter
aufgewachsen war. »Ich mag diese alten Worte«, sagte sie vorsichtig. »Würdest
du sie mir beibringen?«
»Wenn wir dabei nicht trödeln«, antwortete
Rinka. »Meine Mutter erzählte mir, dass sie ein Dutzend und mehr kannte, aber
mich hat sie nur drei gelehrt. Hier ist das erste.«
Es war eine hübsche Melodie, und Sadima
summte mit, bis sie sie sicher beherrschte. Dann lernte sie die seltsamen
Worte, die Rinkas Mutter ihrer Tochter beigebracht hatte. Gemeinsam sangen sie
ein Dutzend Mal, dann summte Sadima alleine vor sich hin, immer und immer
wieder, bis sie mit den Käsebündeln fertig waren und Milch in die
Sauermilchtöpfe gegossen hatten, um mit dem
nächsten Ballen zu beginnen. Danach bat Sadi ma darum, das zweite Lied
lernen zu dürfen. Sie arbeiteten, bis die
Sonne unterging und der Mond am Himmel stand – und dann noch lange Zeit
weiter. Als es schließlich Zeit war zu gehen, drückte ihr Rinka fünf
Kupfermünzen in die Hand. Fünf. Überglücklich dankte ihr Sadima. Sie hatte drei
erwartet.
»Du bist jede
einzelne wert«,
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