Die Gabe der Magie
Franklin streckte die Hand aus
und legte sie mir sanft auf die Wange. Dann lächelte er mich an, so wie nur
Großväter lächeln, und verschwand.
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SCHLIESST RINKA IHREN LADEN AM KÖNIGSTAG?«,
FRAGTE FRANKLIN.
Sadima nickte, legte ihren Federkiel
beiseite und streckte sich. Dann beugte sie sich vor, um den Docht der Lampe
weiter herauszuschieben. »Ich muss morgen überhaupt nicht kommen. Sie sagte, es
gebe einen Festumzug.«
Franklin lächelte, ohne von seiner Arbeit
aufzublicken, und Sadima wusste, dass sie ehrfurchtsvoll und eifrig geklungen
hatte, ganz wie das Bauernkind, das sie war. Sie senkte den Kopf, um ihre
geröteten Wangen zu verbergen. »Wie lange wird es dauern, bis Somiss zurückkommt?«
Franklin zuckte mit den Schultern. »Ich
bin mir nicht sicher, ob er heute überhaupt noch wiederkehrt. Er ist
königlicher Abstammung, und die ganze Familie läuft bei der Prozession hinter
dem König.«
Sadima stieß die Luft aus. »Dann ist also
alles wieder in Ordnung? Sein Vater wird nicht …«
»Nicht heute«, unterbrach Franklin sie.
»Seine Mutter weinte, flehte Somiss’ Vater an und überzeugte ihn schließlich,
dass sein Sohn unmittelbar nach dem Fest wieder dahin verschwinden würde, wo er
laut ihrer Aus sage zuvor gesteckt hatte, und
dass er sich von allem Är ger fernhielte.
Sie würde alles behaupten, damit der Kö nigstag reibungslos verläuft.
Sie lässt immer neue
Kleidung für diesen Anlass anfertigen und Kutschen bauen. Es kostet die Diener
Monate, ihre berühmten Zerstreuungen an diesem Tag zu planen. Ihr und Somiss’
Vater ist das alles ausgesprochen wichtig. Manchmal nimmt der König selbst an
der Feier teil.«
Sadima nickte und beugte sich nachdenklich
wieder über ihre Arbeit. Beinahe zwei Tage ohne Somiss: Einen besseren
Zeitpunkt würde es nie geben. Sie sah wieder auf. »Hat er je wieder ein Wort
über diesen armen kleinen Jungen verloren?«
Franklin schüttelte den Kopf. »Nein. Aber
ich weiß inzwischen, dass er immerhin zur Hälfte recht hatte. Der Bursche war
tatsächlich von Somiss’ Vater geschickt worden. Einige der Marshams vom South
End mussten bestochen werden, damit sie den Jungen zum Schweigen bringen. Meine
Cousins sagen, Somiss’ Vater habe ihn darauf angesetzt, mich zu finden und zu
befragen, was ich über Som…«
»Deine Cousins?«, unterbrach ihn Sadima.
Franklin nahm einen Schluck Tee, den sie
ihm gebracht hatte.
»Somiss’ Mutter hat sich diesmal der Sache
angenommen und einen Ring oder sonst etwas verkauft, um genug Bestechungsgeld
zu haben. Sie wollte ebenso wenig wie wir, dass Somiss’ Vater ihn aufspürt.«
»Deine Cousins kannten den Jungen?«,
wiederholte Sadima.
Franklin stellte seine Tasse ab. »Die
Marshams sind eine große Familie.«
Sadima sah ihm in die
Augen. »Somiss sagte, sein Va ter
kaufe …«
»Ja«, schnitt ihr Franklin das Wort ab.
Sadima wartete, ob er weitersprechen
würde. Einen langen Moment herrschte Schweigen, ehe Franklin ihren Blick suchte
und fortfuhr: »Meine Eltern haben mich an Somiss’ Vater verkauft. Das Geld hat
sie fünf Winter lang mit Nahrung und Feuerholz versorgt.«
Sadima sah, wie in Franklins dunklen Augen
Gefühle aufflackerten. »Sie haben dich verkauft !«
Franklin zuckte mit den Schultern, und
plötzlich erinnerte sie sich an das Blut im Schlafzimmer und an den Wänden. Das
besudelte Laken war längst verschwunden. Bei der erstbesten Gelegenheit hatte
sie sich davon überzeugt. Somiss hatte es nicht gewaschen, sondern einfach
fortgeworfen. Er war ein gewalttätiger Mann. War er auch ein grausamer Junge
gewesen? Hatte er Franklin geschlagen? Hätte es irgendjemandem etwas ausgemacht?
»Somiss macht mir Angst«, sagte sie laut.
Franklin schüttelte den Kopf. »Du musst
das verstehen. Ein Knabe wie er, brillant und eigensinnig – und verzogen. Stell
dir vor, wie es ist, wenn du niemals auf etwas, das du haben willst, warten
musst. Was für einen Einfluss hätte das auf dich und die Art und Weise, wie du
die Welt begreifst?«
»Jeder muss auf sein Abendessen warten«,
sagte sie, und sie war wütend auf ihn, ohne zu wissen, warum. Nichts davon war
seine Schuld. Was für Eltern waren das, die ihre Kinder verkauften ?
»Nein«, antwortete Franklin und schob ein
fertiges Blatt Papier zur Seite. Dann legte auch er seinen Federkiel auf den
Tisch. »Er hat niemals auf irgendetwas gewartet. Den ganzen Tag lang wurden
Mahlzeiten zubereitet und serviert, für den Fall, dass irgendjemand hungrig
wurde.
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