Die Gabe der Magie
mit uns, und keiner von
ihnen würde auch nur eine Andeutung machen, dass sie irgendetwas in ihrer
eigenen Sprache aufgeschrieben hätten. Also warum …«
»Als wir in ihrem
Lager waren«, unterbrach ihn So miss,
»erinnerst du dich noch an das Kind, das stolperte und beinahe in die
Feuerstelle gefallen wäre?«
Franklin sah verwirrt aus, dann nickte er.
»Oh, doch, ja. Ich habe den Jungen festgehalten und von den Kohlen weggezogen.«
»Dieses Kind ist ihr Sohn. Sie sagte, sie
habe ihren Vater gebeten, uns nichts zu tun. Aber er wollte nicht auf sie
hören.« Somiss lachte. »Und so wollte sie es ihm nun heimzahlen. Edle Motive,
nicht wahr?« Er hielt das Buch in die Höhe. »Sie sagte, sie habe aus mehreren
anderen Büchern abgeschrieben und die Lieder ausgewählt, da wir zuerst nach
ihnen fragten. Sie hat es selbst gebunden.« Er blätterte mit dem Zeigefinger
durch die Seiten. »So sieht es auch aus. Aber ihr Vater wird es nicht vermissen
– er weiß gar nicht, dass es existiert.«
»Kannst du es übersetzen?«, fragte
Franklin. Sadima hörte den Eifer in seiner Stimme.
»Das muss ich«, sagte Somiss und schlug
die erste Seite auf. »Es wird eine Zeit dauern. Aber all die Reime und
Geschichten, die wir übersetzt haben, werden mir als Anhaltspunkt dienen. Ich
werde noch mehr herausfinden, und vielleicht dauert es ein oder zwei Jahre,
aber ich werde es schaffen.«
Sadima beobachtete ihn und fragte sich, ob
die Zigeuner-Frau dieselbe war, die Franklin am Brunnen angestarrt hatte. Wenn
sie gleichzeitig eine Eridianerin war, dann glaubte sie daran, dass die Früchte
des Geistes allen zustanden.
»Fang heute noch mit den Abschriften an«,
sagte Somiss. »Als Allererstes brauchen wir vier Kopien – eine davon, um sie
gut zu verstecken.«
Sadima sah Franklin nicken und wusste,
dass es einen neuen sicheren Ort gab, der Teil ihres gemeinsamen Geheimnisses
war.
Somiss richtete sich auf und sah Sadima
an. In seinen Augen lag nicht mehr Ausdruck, als betrachte er einen Stuhl. Sie
drehte sich fort und ging in die Küche.
»Ich muss los«, hörte
sie ihn zu Franklin sagen. »Mei ne
Mutter wird wollen, dass ich bade, rasiert und parfümiert werde, und mich in
dunkelgrünen Samt hülle, um morgen Nachmittag hinter dem König zu laufen.«
Als Sadima hörte, wie die Wohnungstür
geöffnet und wieder zugemacht wurde, kam sie zurück ins Wohnzimmer. Franklin
saß reglos da und starrte lange Zeit auf die geschlossene Tür. Dann erhob er
sich und holte eine frische Feder und ein weiteres Tintenfass, nahm Papier aus
dem Schrank und machte sich an die Arbeit. Sadima sah ihm eine Weile zu.
Schließlich setzte auch sie sich.
»Denk darüber nach, was ich gesagt habe«,
fing sie ruhig an. Er hob den Blick. »Denk nur darüber nach. Du hast mich
geküsst, und ich habe dich geküsst. Ich weiß, was ich fühle.«
»Hör auf«, sagte er, und dieses Mal hielt
er den Blick gesenkt. »Die Freude, die du mir anbietest, ist etwas, das ich
nicht haben kann.«
Sadima beugte sich vor
und umfasste sein Kinn mit ih rer
Hand.
»Das ist eine Lüge. Du hast einfach nur
Angst. Versprich mir, dass du darüber nachdenken wirst.«
Er saß so lange vollkommen unbewegt, dass
sie ihn anschreien und an den Schultern schütteln wollte. Doch schließlich
nickte er. »Das werde ich.«
»Wo soll ich anfangen?«, erkundigte sie
sich und strich vorsichtig mit zwei Fingern über das Buch.
Am Ende arbeiteten Franklin und sie mit
dem Buch zwischen sich. Ihre Stühle standen eine Handbreit voneinander
entfernt, und ihre Schultern stießen gegeneinander.
Als Sadima zu Bett ging, sprach sie das
Lied für ein langes Leben dreimal vor sich hin, wie sie es inzwischen immer
tat.
Dann schlich sie in der Dunkelheit über
den Flur und presste ihr Ohr gegen die Tür von Franklins Schlafzimmer. Wie
viele Nächte würde es geben, in denen Somiss nicht da war? Sie öffnete leise
die Tür und trat auf Zehenspitzen neben Franklins Bett. Durch die Fensterläden
fiel ein wenig Mondlicht herein. Sie streckte die Hand aus, um Franklin zu
berühren und ihn aufzuwecken, damit sie sich küssen und miteinander schlafen
könnten, um dann bis zum Morgengrauen
nebeneinander zu lie gen. So sollte es wenigstens in dieser einen Nacht
sein, wenn schon niemals wieder.
Allein bei der Vorstellung zitterte sie
vor Gefühlen, die sie nicht entwirren und begreifen konnte. Aber als sie die
Hand ausstreckte und Franklin anfassen wollte, legte sie ihm am Ende nur die Hand
auf den Fuß,
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