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Die Gabe der Magie

Die Gabe der Magie

Titel: Die Gabe der Magie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Duey
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während sie zweimal das Lied für ein langes Leben aufsagte, ehe
sie wieder ins Bett ging.
    Und von diesem Moment an tat sie dies in
jeder weiteren Nacht, trotz ihrer Furcht vor Somiss.

44
     
    ZU WISSEN, DASS VIER JUNGEN DABEI WAREN ZU
STERBEN ODER SOGAR SCHON TOT WAREN, ÄNDERTE NICHTS für Gerrard. Er benahm sich wie immer. Jeden Tag nach Franklins
Unterricht kam er zurück, lernte, ging zum Speisesaal, aß, lernte dann wieder
und legte sich schlafen. Er sprach nie, so wie es von Anfang an der Fall gewesen
war.
    In der Stille wurden meine Gedanken
lauter. Nichts fiel mir jetzt mehr schwer. Ich aß, was auch immer ich wollte. Und
es war albern, aber ich war auch bei den Dingen gut, die Franklin von uns
verlangte.
    »Nun bewegt eure
Gedanken aus dem Bauch in die Zehen«, sagte er eines Tages. Ich öffnete die
Augen, denn ich war mir sicher, dass ich mich verhört hatte, was aber nicht
stimmte. Franklin wiederholte die Anweisung.
    »Atmen«, sagte er. Wir gehorchten aufs
Wort wie die stinkenden, geprügelten, gut abgerichteten Tiere, die wir geworden
waren. Ich machte die Augen wieder zu. Tally war gestorben. Ich nahm an, dass
Joseph und Rob und ein Junge, dessen Namen ich nie gelernt hatte, ebenfalls
nicht mehr am Leben waren. Will sah halbtot aus – nicht vor Hunger, sondern vor
Sorgen. Ich bemitleidete ihn, denn er musste nach dem Unterricht in ein leeres
Zimmer zurückkehren. Auch Levins Augen waren trübe und ohne viel Ausdruck, und
ich wusste, dass er trauerte. Luke und Jordan hingegen waren ebenso zornig wie ich
– das konnte ich in ihren Augen lesen. Ob Gerrard irgendetwas fühlte, konnte
ich nicht sagen, nur dass er entschlossen war zu gewinnen, zu leben und
derjenige zu sein, den die Zauberer erwählten.
    Jungen hatten ihr Leben
gelassen , und ich lernte, mei ne Gedanken aus verschiedenen Teilen meines Körpers kommen zu
hören. Alle anderen Jungen waren mit dem gleichen vollkommenen, verfluchten Unsinn
beschäftigt.
    »Macht weiter«, sagte Franklin, »und
bewegt eure Gedanken.«
    Ich stellte mir vor, wie meine Gedanken
von meinem Bauch in die Zehen wanderten. Sie liefen meine Beine wie Wasser
hinab und nisteten sich in meinen nackten, zerschundenen Zehen ein. Es war
merkwürdig, meine Zehen denken zu hören und auf sie zu lauschen. Natürlich
hatten sie meine Stimme, und sie fühlten sich genauso wie ich mich: zornig und
auf eine betäubte, erschöpfte Weise verängstigt.
    »Gut, Hahp«, hörte ich Franklin sagen. Ich
fuhr zusammen und verkrampfte mich. Es war lange her, dass er im Unterricht mit mir gesprochen hatte. Luke würde
sei ne Wut nicht mehr länger auf Gerrard, sondern auf mich richten, wenn
er glaubte, dass ich derjenige war, den es auszustechen galt. Ich fragte mich –
oder vielmehr meine Zehen fragten sich –, ob Luke das Gleiche wollte wie ich:
den Abschluss zu machen und dann seinen Vater zu besuchen. Wenn Gerrard die
Wahrheit gesagt hatte, dann blieben ihm zumindest solche Mordgelüste erspart.
    Dieser Gedanke war der Auslöser für jenen
langen Tagtraum, in dem ich in meinem schwarzen Umhang nach Hause zurückkehrte.
Ich konnte nicht aufhören, mir diese Szene auszumalen. Hin und wieder veränderte
ich sie ein wenig und fügte einen Streit hinzu, manchmal schlug ich meinen
Vater, manchmal machte ich ihn zu einem weißen Pony mit toten Augen.
    Die Wahrheit war ganz
einfach: Während ich mir die se
Dinge ausdachte, fühlte ich mich stark und im Gleichgewicht. War das der
Zustand, der einen Zauberer ausmachte? Dass er sich stärker und besser im
Gleichgewicht als jeder sonst fühlte?
    »Das ist ein Teil davon.«
    Es war Franklins Stimme, die aus meinen
Zehen zu mir sprach, und ich riss die Augen auf. Seine waren geschlossen.
Verdammt. Ich konnte nicht mehr unterscheiden, was real war und was nicht.
Vielleicht war das ein Test. Vielleicht wollten sie in Wirklichkeit denjenigen
von uns finden, der irgendwann aufstand und schrie, dass alles hier verrückt
sei. Derjenige, der sich dann weigerte, all diesen Unsinn mitzumachen, wäre derjenige,
der leben und ein Zauberer sein würde.
    Dieser letzte Gedanke hing in der Luft
über meinen Füßen, als wäre er für meine Zehen zu neu und unglaublich. Ich
spürte, wie sich der Gedanke nach und nach kalt und tief in meinem Magen
einnistete. Das machte mir Angst. Konnte das der Sinn und Zweck sein, einige
von uns sich zu Tode hungern zu lassen? Einen oder zwei von uns zornig und
verzweifelt genug zu machen, dass sie die Furcht vor diesem Ort,

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