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Die Gabe der Magie

Die Gabe der Magie

Titel: Die Gabe der Magie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Duey
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herausströmte. Die in diesem
Dämmerzustand üblichen Träumereien setzten ein. Sollte ich derjenige sein, der
den Abschluss schaffte, würde ich als Erstes meinen Vater töten. Dann würde ich
davonlaufen, sodass mich niemand je wiederfinden würde – nicht einmal die Zauberer.
Ich wollte leben. Und ich wollte keiner von ihnen werden.
    »Drückt eure Gedanken aus eurem Geist in
euren Bauch«, sagte Franklin.
    Ich hörte ihn, aber was er sagte, ergab
für mich keinen Sinn. Die anderen bewegten sich unruhig auf dem Steinboden.
Tore und Bauchgedanken und Atemmuster: War all das ein Test? Ein Witz? Würden
sie alle außer einen von uns sterben lassen und dem Letzten dann die wahre Magie
beibringen? Wieder starrte ich in die Dunkelheit hinter meinen Augenlidern und
versuchte, zur Ruhe zu kommen.
    »Zorn ist ein guter Ausgangspunkt«, sagte
Franklin. »Zornige Gedanken sitzen oft im Bauch.«
    Ich öffnete die Augen und bemerkte, dass
er mich anschaute. Doch dann blinzelte ich und sah, dass seine Augen in
Wahrheit geschlossen waren. Ich hatte keine Bauchgedanken . Aber
vielleicht befand sich tatsächlich Zorn in meinem Bauch. Doch Gefühle waren
nicht das Gleiche wie Gedanken. Oder doch? Ich war mir nicht sicher. Ich
lauschte meinen eigenen Gedanken, als wäre ich ein wenig interessanter Fremder.
Es erschreckte mich nicht. Ich war froh, ein Gespräch führen zu können, das
mich davon abhielt, über die beiden abwesenden Jungen nachzugrübeln. Auch der
Fremde wollte nicht an sie denken. Erwartete man von mir, dass ich zuhörte, wie
der Unbekannte aus meinem Bauch heraus sprach?
    »Ganz genau.«
    Ich schlug die Augen auf und sah Franklin
reglos und mit geschlossenen Lidern vorne sitzen.
    »Und nun verlagere deine Gedanken in
deinen Bauch«, sagte er, und ich entdeckte, dass sich seine Lippen bewegten.
»Schließ die Augen.«
    Ich hörte, wie die anderen sich unruhig
bewegten, sich kratzten, seufzten. Jemand hustete. Auch ich verlagerte mein Gewicht auf dem Steinfußboden; der Umhang rieb an der glatten,
rosafarbenen Haut, wo die Narben gewesen waren. Ich sehnte mich nach einem Bad,
einem weichen Hemd, Hosen und Schuhen. Ich wollte Schuhe. Und ich wünschte mir
so sehr, den Himmel wiederzusehen.
    Ich dachte an meinen Vater, und damit
setzte sich ein weiterer meiner vertrauten Tagträume in Gang. Ich stellte ihn
mir vor, wie er in dem großen Ledersessel in seinem Arbeitszimmer saß. Mich
selbst sah ich in einem schwarzen Umhang vor ihm stehen. Seine Augen huschten unruhig
über mein Gesicht, und auf seiner Stirn stand der Schweiß. Eines Tages würde
mein Vater mit seiner Arroganz und dem gemeinen Herzen vor mir stehen, und er
würde höflich sein.
    »Hahp«, würde er zu mir sagen, und seine
Stimme würde leise und voller Respekt
klingen. »Bleibst du noch zum Abendessen? Das würde deiner Mutter viel bedeuten.«
    Ich malte mir aus, wie ich ihn anstarrte
und mich zu keiner Antwort herabließ, bis er nervös wurde und eingeschüchtert
meinem Blick auswich.
    »Wenn du nicht bleiben kannst, dann wird
sie das verstehen«, würde er hinzufügen und den Stuhl zurückschieben, um mich
zum Gehen zu bewegen. Ich jedoch würde einfach dort stehen bleiben und ihn anstarren,
sodass sich der Schweiß auf seiner Stirn zu Tropfen sammelte.
    »Es ist schön, dich zu sehen«, würde er
sagen, da ihm sonst kein Thema einfiel.
    »Wie geht es Mutter?«, würde ich ihn
fragen, die Antwort jedoch bereits kennen. Sie wäre glücklich, weil er sie aus
lauter Angst vor mir freundlich behandelte. Und er wüsste, dass ich ihn vielleicht
am Leben ließe, wenn es ihr auch weiterhin gut ginge.
    »Sie ist wohlauf«, würde er vorsichtig
sagen.
    Und plötzlich konnte ich hören, wie die
angstvolle Stimme meines Vaters aus meinem Bauch an meine Ohren drang.
    »Dein Bruder wird zum Winterfest hier
sein«, berichtete er. »Er bat mich, dir zu sagen, dass er stolz darauf ist, der Bruder eines Zauberers zu sein.« Er machte
eine Pau se. »So wie ich stolz darauf bin, dich als Sohn zu haben.«
    »Wie bitte?«, fragte ich.
    »Ich bin stolz darauf, dich als Sohn zu
haben. Sehr stolz«, sagte er, und seine Stimme kam aus meinem eigenen Bauch.
    »Wie bitte?«, fragte ich, denn ich wollte,
dass er es noch einmal sagte.
    »Du kannst mit den anderen gehen, Hahp«,
hörte ich Franklin sagen.
    Ich fühlte mich, als würde mich jemand von
unter der Wasseroberfläche hervorreißen. Ich schnappte nach Luft und öffnete
die Augen. Keiner der Jungen war mehr im Raum.

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