Die Gabe der Patricia Vanhelsing - 5 Patricia Vanhelsing-Romane (Sonderband) (German Edition)
Patricia!"
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An diesem Abend kam ich relativ früh aus der Redaktion nach Hause. Ich parkte den roten Mercedes 190 in der Einfahrt von Tante Lizzys viktorianischer Villa und stieg aus. Der Nieselregen, der über den Tag hinweg immer mal wieder von dem grauen, unfreundlichen Himmel heruntergekommen war, war inzwischen verebbt. Dafür wurde der Nebel dichter. Unterwegs hatte ich kurz die Wettervorhersage gehört und so wußte ich, daß kaum ein Anlaß zur Hoffnung bestand. Zumindest, was das Wetter anging.
Ich ging zur Haustür.
Einen Augenblick brauchte ich noch, ehe ich den Schlüssel aus meiner übervollen Handtasche herausgekramt hatte. Dann steckte ich ihn ins Schloß und öffnete. Ich trat ein und ging einen langgezogenen Flur entlang. Zu beiden Seiten waren Bücherregale, in denen sich dicke, staubige Folianten Aneinander drängten. Dazwischen waren immer wieder eigenartige Gegenstände zu sehen. Geistermasken, kleine Totemstatuen aus tropischem Hartholz, deren tierhafte Gesichter den Betrachter grimmig anstarrten und ein seltsames Mobile aus kleinen Kristallkugeln.
Für jeden Fremden mußte diese Villa und ihr Inneres befremdlich wirken. Eine Mischung aus überquellender Bibliothek und Geisterbahn. Aber mir war das alles nur zu gut vertraut. Seit meinem zwölften Lebensjahr lebte ich bei meiner Großtante Elizabeth Vanhelsing, die ich Tante Lizzy nannte. Seit dem frühen Tod meiner Eltern hatte sie mich wie eine eigene Tochter großgezogen.
Und auch jetzt, da ich längst eine junge, selbstständige Frau war, die durch ihren Job auch finanziell auf eigenen Füßen stand, lebte ich noch hier. Das Verhältnis zwischen Tante Lizzy und mir hatte sich mit den Jahren gewandelt. War sie zunächst der fürsorgliche Mutterersatz gewesen, so war sie längst mehr zu einer Art Vertrauten und Freundin geworden. Und oft half sie mir bei meinen Recherchen, insbesondere dann, wenn es um Stories ging, bei denen übersinnliche Phänomene oder mysteriöse Erscheinungen im Mittelpunkt standen.
Dafür hatte Tante Lizzy nämlich von jeher ein besonderes Faible gehabt - möglicherweise auch durch die Studien ihres verschollenen Mannes Frederik geweckt, der ein berühmter Archäologe gewesen war. Zahlreiche seiner Fundstücke zierten die Räume der Villa und unterbrachen die langen Bücherreihen oft sehr obskurer Schriften. Die meisten befaßten sich mit okkulten Themen, mit Geisterbeschwörung, Magie und Parapsychologie. Tante Lizzy war fasziniert von diesen Dingen, hatte aber niemals ihre gesunde Skepsis deswegen aufgegeben. Sie wußte sehr wohl, daß das Meiste, was auf diesem Gebiet auf dem Markt war, nichts als Betrug war. Scharlatane machten sich die Neugier des Menschen zu Nutze, die Sehnsucht nach dem Geheimnisvollen, nach Dingen, für die es - noch - keine befriedigende Erklärung durch die Wissenschaft gab.
Tante Lizzy war von der Existenz des Übersinnlichen überzeugt. Und daher hatte sie eine der größten
Privatsammlungen, die es in Großbritannien auf diesem Gebiet gab, zusammengetragen. Sie wollte, daß die rätselhaften Phänomene wenigstens dokumentiert würden. Okkulte Schrift und uraltes Wissen über parapsychische Phänomene durften nicht verloren gehen. Für vieles gab es mit den Methoden der heutigen Wissenschaft noch keine hinreichende Erklärung. Aber für Tante Lizzy war das kein Grund, diese Phänomene einfach zu ignorieren.
Die Spreu vom Weizen auf diesem Gebiet zu trennen, das war die Lebensaufgabe, der sie sich gewidmet hatte.
Und dementsprechend sah das Innere ihrer verwinkelten und eigentlich sehr weitläufig angelegten Villa auch aus. Jeder Winkel war mit Exponaten ihrer sogenannten 'Sammlung'
vollgestopft. Dazu gehörten neben okkulten Büchern und Gegenständen auch unzählige Zeitungsartikel aus dem In-und und Ausland, die sie sehr sorgfältig archivierte.
Lediglich meine Räume, die in der oberen Etage lagen, waren eine 'okkultfreie Zone', wie ich es oft scherzhaft genannt hatte.
Am Ende des Flures stand eine Tür halb offen. Licht drang heraus. Dort war die Bibliothek, wo sich der wichtigste Teil von Tante Lizzys Sammlung befand. Wohlgemerkt nur der Wichtigste - und nicht etwa der Größte!
Ich nahm an, daß sie in einem der Sessel saß, versunken in die Lektüre irgend einer obskuren Schrift vertieft, in der ein verschlüsseltes Geheimwissen zu entdecken war. Ich trat an die Tür und blickte hinein.
Aber von Tante Lizzy war dort keine Spur.
Auf den zierlichen Stühlen lagen
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