Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
Gestaltung der Kuppel.
Die Hoffnung des Königs ruhte nun auf dem Architectulus. In allen Berufen gaben Väter ihr Wissen an die Söhne weiter, das würde bei Iosefos auch nicht anders gewesen sein. Möglicherweise stand der Fertigstellung der Kuppel nur Odos Groll im Weg und hinderte den stummen jungen Mann daran, seine Kenntnisse einzusetzen. Dem wäre mühelos abzuhelfen. Dieser Gedanke erschien Karl weitaus erträglicher als der ungeheuerliche Verdacht, der ihn beim Abschied aus Aachen beschlichen hatte und dessen er sich jetzt erst, da er Ende September in der Mittagssonne an Liutgards Seite gen Westen ritt, wieder entsann.
War Iosefos der Tradition des Weitergebens auch dann gefolgt, wenn es sich bei diesem Sohn in Wahrheit um eine Tochter handelte?
Karl erinnerte sich daran, wie er dem Architectulus das wirre Haar zurückgestrichen und ein verblüffend fein geschnittenes Antlitz enthüllt hatte, von atemberaubender Schönheit und bar jeglicher männlicher Behaarung. Er rief sich das Bild ins Gedächtnis zurück wie auch die ersten Gedanken, die ihn bei diesem Anblick gekommen waren, die er aber angesichts wesentlich bedeutsamer anderer Begebenheiten in den Hintergrund gedrängt hatte. Dieses Gesicht meinte er nun, schon einmal erblickt zu haben. Oberhalb eines grünen Kleides, dessen tiefer Ausschnitt keinen Zweifel am Geschlecht des zu dem Kopf gehörigen Körpers hatte aufkommen lassen. Auf einem der unzähligen Festmahle vor langer Zeit. Nur wo? In Regensburg? In Ingelheim? Oder gar in Aachen ? Ich werde alt, dachte er missmutig.
Er lächelte Liutgard aufmunternd zu und seufzte. Als König nahm er an unzähligen Gelagen teil, als Mann umgab er sich mit unzähligen schönen Frauen; er hatte jeden Tag mit unzähligen Menschen zu tun und unzählige Entscheidungen zu fällen. Nein, es war kein Zeichen des nahenden Alters, dass er diese Frau mit dem Gesicht des Architectulus keiner seiner unzähligen Liebschaften zuordnen konnte. Denn dass er ein solch verführerisches Wesen unberührt gelassen hätte, war undenkbar. Könnte es sein, dass Iosefos deshalb seine Tochter als Sohn verkleidet hatte? Um sie vor den Nachstellungen des Königs zu schützen? Aber nein, der Architectulus war als Knabe an seinen Hof gekommen; er hatte ihn vor langer Zeit in seinem Sarazenerkleid selbst entdeckt. Karl konnte sich nicht entsinnen, dieser Frau, wer sie auch gewesen sein mochte, das grüne Kleid ausgezogen zu haben. Aber sie hatte zweifelsfrei das atemberaubende Antlitz des von seinen schwarzen Zotteln befreiten Architectulus aufgewiesen. Gott schütze mich vor dunklen Frauen, murmelte er, und nahm sich vor, in Aachen dieses Geheimnis zu ergründen. Sobald ihm die Tagespolitik Zeit dafür ließ, würde er die Scherben seiner Erinnerung zusammenkehren und sie mit den Mosaiksteinen der Gegenwart in ein vernünftiges Gefüge verwandeln.
Liutgard hatte bereits den Gipfel des Haarbergs erreicht.
»Schau, Karl«, rief sie, »von hier oben siehst du deine ganze Stadt!«
Ihre Stimme klang fröhlich und unbeschwert. Sie hatte allen Grund dazu. Denn sie wusste, dass er sie aus ganzem Herzen liebte, wiewohl er viele Stunden bei anderen Frauen verbrachte. Jahre zuvor hatte ihn Liutgard als treue Geliebte in der ersten Zeit seiner Ehe mit Fastrada vor dem Wahnsinn jener dunklen Königin geschützt. Bis Liutgard ins Kloster Chelles gegangen war, weil sie ihr Dasein als Nebenfrau nicht länger hatte ertragen können. Daraufhin war Karl der damaligen Königin, die am Hof heimlich nur die schwarze Hexe genannt wurde, dermaßen verfallen, dass er nach deren Tod nicht einmal von ihrer Leiche hatte lassen können. Ihm schauderte noch immer bei dem Gedanken.
Es war nie darüber gesprochen worden, aber er ahnte, dass man sich am Hof magischer Mittel bedient hatte, um ihn von seiner Besessenheit zu heilen. Danach hatte er einige Monate lang dunkle Frauen gemieden, sich nur lichten zugewandt, wie beispielsweise der liebenswerten weißblonden Sächsin Gerswind. Vielleicht stammte auch die Erinnerung an die schwarzhaarige Frau im grünen Kleid aus jener Zeit. Damals wäre er ihr sicherlich ferngeblieben.
Er war überglücklich gewesen, als Liutgard wieder in sein Leben trat, vermutlich auf Betreiben von Alkuin, Einhard und anderen, die der sanften Alemannin seit jeher zugetan gewesen waren.
Schon beim ersten Wiedersehen in Paderborn hatte er ihr Hand, Herz und Krone angeboten. Sie hatte sich Bedenkzeit erbeten. Nach wenigen Tagen hatte sie
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