Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
Jerusalem, war ehrfürchtig gemunkelt worden, aber das mochte sie nicht recht glauben. Schließlich waren in eine der seitlichen Platten die feinen Linien genau jenes Brettspiels eingeritzt, das sie in ihrer Kindheit oft mit Dunja gespielt hatte. Zu einer Zeit, da sie noch ein sorgloser Knabe gewesen war und nicht hatte befürchten müssen, ungewollt Mutter zu werden. Als es noch keine Wiesel in ihrem Leben gab. Nein, daran wollte sie jetzt nicht denken!
Sie tat es dennoch und begann zu würgen. Wie damals, als ihr Lucas, Tage nach seinem Besuch bei der Hure, davon erzählt hatte. »Damit eine Frau nicht empfängt, muss man einem lebenden Wiesel die Hoden entfernen, diese in eine Eselshaut wickeln und der Frau umbinden.«
Nein, es gab Grenzen, die nicht überschritten werden durften.
Wenn du, oh mein Herr, entschieden hast, in mir ein Kind wachsen zu lassen, dann sei es so. Du bist der Verzeihende, und ich bin die Sünderin, und wer außer dem Verzeihenden kann gegenüber der Sünderin barmherzig sein? Wenn ich weiß, dass ich trotz meiner Verfehlungen in deiner Gnade stehe, allmächtiger Allah, wird sich alles zum Guten wenden. Mit Kind oder ohne. Schicke mir ein Zeichen, barmherziger Allah.
Lucas’ Stimme riss sie aus ihrer Anrufung: »Ezra, bist du fertig?«
Leicht benommen, blickte sie auf die Rundung des Bodens. Sie hatte alle Steine eingesetzt. Mühsam richtete sie sich auf, streckte sich und nickte. Ihre Knie schmerzten. Lucas strich ihr sanft über den Kopf.
»Du musst dich bereit machen, Ezra. Du willst doch nicht den triumphalen Einzug des Königs verpassen.« Er bückte sich und schob die Öllampe, in deren Licht Ezra gearbeitet hatte, näher an das fertige Mosaik heran.
»Sehr schön«, sagte er, stutzte dann und ging in die Knie, um das Werk genauer zu betrachten. »Wann hast du denn die Vorlage hierfür gezeichnet?«, fragte er verblüfft.
Ezra zuckte mit den Schultern. Welche Vorlage? Sie hatte lediglich bunte Steinchen nebeneinandergesetzt und sich über deren Anordnung wenig Gedanken gemacht. Die Arbeit hatte sich während ihrer Anrufung Allahs wie von selbst erledigt.
»Wer ist das?«, fragte Lucas und klopfte mit einem Finger auf das Mosaik. »Wen hast du da abgebildet? Jemanden aus deiner Heimat?«
Ezra sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. Erst dann schaute sie dorthin, worauf sein Finger wies. Sie wischte sich über die Augen. Was sie sah, konnte unmöglich vorhanden sein. Aber es war unverkennbar da, von ihr selbst in Stein gesetzt. Sie atmete tief durch und fiel wieder auf die Knie. Tränen traten ihr in die Augen.
Danke, oh mein Herr, dass ich noch in deiner Gnade stehe. Barmherziger Allah, Dein Name sei gepriesen, Du bist der Schöpfer, und ich bin dein Geschöpf.
Voller Ehrfurcht streckte sie einen Finger aus und zeichnete mit ihm die Konturen von Kopf und Turban eines Mannes nach, der sie aus dem Mosaik heraus anzulächeln schien. Allah, der Barmherzige, hatte ihre Hand geführt und ihr durch Mohammed, seinen Propheten, Segen und Frieden auf ihn, ein Zeichen gesandt. Alles würde gut werden.
viele Stunden später
Mit einer Schalenlampe in der Hand blickte Ezra über die weite, stille Wasserfläche, aus der Fäden aus Dampf aufstiegen. Gleich würde sie nach langer Zeit endlich wieder ihren ganzen Körper in reinigendes Nass tauchen und sich in warmer Dunkelheit treiben lassen können. Sie kostete die Vorfreude aus, merkte erst jetzt, wie sehr ihr das Bad gefehlt hatte. Denn seitdem sie mit Lucas in einer Kammer schlief, hatte sie ihre nächtlichen Ausflüge ins Badehaus eingestellt. Doch nach den Ereignissen dieses Tages bedurfte sie einer gründlichen und besonderen Reinigung, ehe sie sich mit ihren Gebeten an Allah wenden und ihm für sein Zeichen gebührend danken würde. Lucas hatte tief geschlafen, als sie aus der Kammer geschlichen war. Sollte er vorzeitig erwachen, würde ihre Abwesenheit ihn nicht beunruhigen. Er wusste, dass sie manchmal zu sehr später Stunde die Zwiesprache mit ihrem Gott suchte und diese in lauen Sommernächten auch gern unter freiem Himmel abhielt. Es würde ihn nur verwundern, dass sie gerade nach diesem überaus anstrengenden Tag auf ihre Nachtruhe verzichtete.
Der König hatte Ezra und Lucas bei der Abendmahlzeit nur flüchtig begrüßt, ehe er sich an die von ihrem Tisch weit entfernte erhöhte Tafel begeben hatte. Was dort, inmitten seiner Familie, zwischen Würdenträgern und einer überraschend eingetroffenen Abordnung aus
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