Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
bestürzt. Er traute Odo nicht zu, allein das mächtige Halbrund zu schaffen, das er auf Ezras Sandzeichnung und in seinen Träumen gesehen und das ihm Iosefos versprochen hatte. An dessen Kunst hatte er nie gezweifelt. Er hatte ihm völlig freie Hand gelassen, was nicht nur ungewöhnlich für den König war, sondern dessen Berater auch außerordentlich befremdete. Schließlich hatte Karls Forderung, über jegliches verwendete Material und jeden Arbeitsschritt beim Bau seiner Pfalzanlage unterrichtet zu werden, Einhard nur allzu oft an den Rand der Verzweiflung getrieben. Deshalb hätte der junge Schreiber nur zu gern gewusst, weshalb ausgerechnet Meister Iosefos, dem doch das bedeutendste Werk anvertraut war, keinerlei Rechenschaft abverlangt wurde. Einhard hätte sich noch mehr gewundert, wenn er den Grund dafür gekannt hätte.
Kurz nachdem das Geheimnis um die wahre Herkunft des Iosefos gelüftet worden war, hatte Karl dem Baumeister befohlen, ihn jede seiner weiteren Maßnahmen ausführlich zu schildern und ihm vor allem zu verraten, mit welchen Mitteln er in dieser Höhe eine derart weite Kuppel aus Stein wölben könne.
»Ich weiß, was ich tue. Es geht um meinen Kopf«, hatte Iosefos daraufhin geknurrt. Eine solche Antwort ließ sich der König von niemandem gefallen; also bestellte er den Baumeister weit nach Mitternacht in seine Privatgemächer ein. Hier würde der einsilbige Kauz Farbe bekennen müssen. Auf die Art hatte der stets nachtwache König bisher noch alle Würdenträger, Freunde oder Gegner spätestens in den frühen Morgenstunden mit erdrückend langwierigen Ausführungen zermürbt. Von Müdigkeit überwältigt, lenkte jeder irgendwann ein, stimmte dem Herrscher in allem zu, gestand Verfehlungen oder verriet Geheimnisse. Nicht aber Iosefos.
Mit mürrischem Gesicht hatte er sich des Königs Stunden währenden Vortrag angehört, der mit den Worten endete: »Wie wirst du also meine Kuppel bauen?«
»Mit meiner Kenntnis.«
»Lass mich an dieser in allen Einzelheiten teilhaben. Erstatte mir ausführlich Bericht. Ich höre.«
Der König hatte sich auf dem Kissen seines fein geschnitzten Holzsessels zurückgelehnt.
Iosefos begann zu reden. Er sprach von der Kuppel, die er in Konstantinopel aus bekannten tragischen Gründen leider nicht hatte fertigstellen können. Er hatte sich damals die Sergios- und Bakchos-Kirche aus dem sechsten Jahrhundert zum Vorbild genommen, jenen Bau, dem die Hagia Sophia nachempfunden sein sollte und der im Volksmund die kleine Hagia Sophia hieß. Eine Kirche, deren Linien sich größtenteils auch in der Sandzeichnung seines Sohnes gespiegelt hatten, dem er oft von seinem Traum, eine solche Kuppel zu vollenden, erzählt hatte. Iosefos nahm den König mit auf die Flucht nach Bagdad und beschrieb ihm jede einzelne Kuppel, die er dort für den Vater des jetzigen Kalifen und später für Harun al Raschid gewölbt hatte. Nie aus Stein, aber es waren sehr viele Kuppeln. Er erzählte nebenbei eine amüsante Geschichte über Harun al Raschids Leidenschaft für die Löwenjagd und bediente sich dann zahlreicher komplizierter Fachausdrücke, als er über die unterschiedlichen Stile zum Bau von Kuppeln dozierte. Seine Stimme blieb gleichbleibend monoton. Stunden vergingen; Iosefos redete und redete.
Dann herrschte mit einem Mal Stille. Der König schreckte auf. Etwas Unerhörtes war geschehen: Nie zuvor war er bei einer nächtlichen Besprechung eingeschlafen. Mühsam verbarg er seine Bestürzung.
»Danke. Das war überaus aufschlussreich«, sagte er. »Du kannst jetzt gehen, Meister Iosefos.«
Nichts von den wirklich relevanten Ausführungen des Baumeisters war zu ihm durchgedrungen. Er konnte sich nicht einmal erinnern, bei welchem Thema er eingeschlummert war. Löwenjagd, dachte er, aber die hat mit dem Bau meiner Kuppel nichts zu tun. Die dieser Mann, der mich in der Disziplin des Wachbleibens bezwungen hat, bauen wird; er verdient mein Vertrauen.
Doch jetzt war dieser Mann tot.
Und die Kirche, die von der größten Kuppel nördlich der Alpen gekrönt werden sollte, wurde nun von einem grob gezimmerten Zeltdach aus Holz verunstaltet. Einhard hatte ihm geschrieben, dies sei nur ein Provisorium, damit im Winter das Innere der künftigen capella weiter ausgestaltet werden könne. Mittlerweile war der Sommer fast verstrichen, aber keine der vielen Nachrichten, die Karl unterwegs über den Fortschritt seines Baus erreichten, enthielt Mitteilungen über Arbeiten an der
Weitere Kostenlose Bücher