Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
König und dessen Familie nahe dem riesigen alten Altar zu erhaschen. Dieser war am Vortag mit viel Mühen in die capella geschafft und, um achtunddreißig Grad gedreht, wieder auf genau den Platz gestellt worden, den er in der alten Holzkirche König Pippins innegehabt hatte. Dessen Sohn nahm diesmal noch im Untergeschoss inmitten seines Volkes an der Messe teil. Das würde sich allerdings ändern, sobald der Marmorthron in der Loge auf der Empore zusammengebaut worden war.
Ezra versuchte, alle Gedanken an die beschämende Begegnung der Nacht zu verdrängen. Theresa hat nackt vor dem König gestanden, redete sie sich ein, Theresa hat ihm Widerworte gegeben und ist vor ihm geflüchtet. Theresa wird sich nie wieder im Bad blicken lassen. Wie schon Xenia kann ich auch Theresa für alle Zeit verschwinden lassen. Damit nichts geschehen ist, was mich bekümmern könnte.
Begierig atmete Ezra Schwaden des Weihrauchs ein. Ob der wohl auch aus dem Oman stammte, wie der vertraute Wohlgeruch, der überall in Bagdad verströmt wurde? Der heimatliche Duft ließ Tränen in ihre Augen treten. Dieser Bau ist Teil meines Zuhauses, meines Bagdads, dachte sie und musterte die acht mächtigen Bogentore und den arabisch anmutenden Umgang des Untergeschosses, als nähme sie dies alles zum ersten Mal wahr. Ihr Blick glitt nach oben zu dem ausladenden Kranzgesims, hin zu den verschiedenfarbigen übereinandergestellten Säulen in den steilen Arkaden und höher hinauf, dorthin, wo die Morgensonne aus den noch nicht verschlossenen Fenstern hineinstrahlte und den oberen Teil des Oktogons in ein wundersames Licht tauchte. Leider beleuchtete sie auch die wenig schmückenden Verstrebungen des hölzernen Zeltdachs. Wiewohl sie Nacken und Aussicht schmerzten, zwang sich Ezra, den Blick nach oben gerichtet zu halten. Sie flehte um eine Eingebung. Wie nur hatte die Kuppel in ihrem Traum ausgesehen? Sie wusste es nicht mehr. Sie wusste nur, dass der Wüstenturm ihres Traumes erst dann vollendet sein würde, wenn ihn ein steinernes Halbrund krönte.
»Dem König gefällt seine capella «, hatte Einhard ihnen vor der Messe zugeraunt. »Das wird er euch nach dem Gottesdienst selbst sagen. Haltet euch bereit; ich werde euch dann gleich zu ihm bringen.«
Nach der Messe bedeutete er ihnen zu warten, bis alle anderen die Kirche durch das Portal im Westwerk verlassen hatten. Ezra lächelte, als sie sah und hörte, wie das große vorläufige Holztor geöffnet wurde. Nicht nur die Kuppel brauchte ihre Zeit. Alboin hatte ihr verraten, seine Leute würden jahrelang an den Flügeln für das vorgesehene riesige Eingangsportal und an den weiteren vier Türen der Kirche arbeiten müssen. Die Portale römischer Kuppelbauten, erläuterte er, seien einst aus starken Holzbohlen gezimmert und dann mit Bronzeblech beschlagen worden. König Karl aber wünschte sich etwas Besseres, nämlich massive Flügeltüren aus einem Guss.
Das Hauptportal sollte sich nach innen öffnen und auch von innen durch Querbalken verschlossen werden. Damit die Türflügel später ungehindert bewegt werden könnten, hatte Iosefos schon zu Beginn der Bauarbeiten Raum in den gewaltigen Mauern aussparen lassen.
»Die Zeit des Königs ist kostbar«, sagte Einhard, als alle anderen die Kirche verlassen hatten. »Zumal er sich noch mit den Gesandten aus Ostrom befassen muss. Offenbar will ihm Kaiserin Irene ein Friedensangebot unterbreiten. Fasst euch also kurz.« Er deutete mit dem Daumen nach oben: »Nur über den Bau der Kuppel werdet ihr ihm ausführlich Bericht erstatten müssen. Seine Wissbegier diesbezüglich ist übergroß. Lange wird er sich dieses Holzdach nämlich nicht mehr gefallen lassen. Und jetzt kommt.«
Vor der Kirche standen noch viele Menschen in Gruppen beieinander und unterhielten sich angeregt. Die meisten hatten das neue Bauwerk zum ersten Mal von innen gesehen. Sie waren gehörig beeindruckt, wie Ezra einigen Gesprächsfetzen entnahm. Wartet, dachte sie, bis ihr erst die Kuppel seht!
Zu ihrer Überraschung drängte sich vor dem Portal des Palatiums unter lautem Geschrei eine große Menge zerlumpter und schmutziger Gestalten. Die Leute schoben und beschimpften sich; sie schlugen aufeinander ein, bückten und reckten sich, rieben sich die Augen oder hatten die Arme mit den Handflächen nach oben ausgestreckt. Ezra rannte los, als sie erkannte, dass ein Kind zertrampelt zu werden drohte. Gerade noch rechtzeitig zog eine Frau den am Kopf blutenden Knaben vom Boden. Doch sie
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