Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
legte ihn am Rand des Gedränges einfach auf der Erde ab und stürzte sich sofort wieder in die Menge zurück. Ezra lief auf das Kind zu und ging vor ihm in die Hocke. Als sie sich die Verletzung an seinem Kopf näher ansehen wollte, spie ihr der Knabe jedoch ins Gesicht. Er rappelte sich auf, stieß Ezra vor die Brust und rannte dorthin zurück, wo die Menge tobte.
Ezra erhob sich. Vor dem Portal des Palatiums machte sie die Ursache dieses seltsamen Tumultes aus: Auf den Stufen stand König Ludwig von Aquitanien und warf schwungvoll Münzen und winzige glitzernde Gegenstände in die Menge. Ezra hatte schon gehört, dass kein Mitglied der Herrscherfamilie mehr Almosen an Arme und Bedürftige verteilte als des Königs jüngster Sohn. Jetzt war sie selbst Zeugin dieser viel bewunderten Barmherzigkeit geworden.
»Macht Platz, lasst uns durch«, versuchte Einhard sich Gehör zu verschaffen. »Wir müssen dort hinein.«
König Ludwig hielt in seinem Wohltätigkeitswerk inne und forderte die Leute mit einer Handbewegung auf, Platz zu machen. Gehorsam bewegten sich die ausgezehrten Gestalten zur Seite und gaben eine Gasse frei.
»Sei gegrüßt, König Ludwig«, sagte Einhard.
Freundlich erwiderte Ludwig den Gruß.
»Ihr wollt zu meinem Vater?«, fragte er Einhard.
»Gewiss, er hat uns zu sich bestellt.«
»Hinein mit euch; er wartet nicht gern.«
Mit einer großzügigen Handbewegung bedeutete er dem Grüppchen, sich ins Palatium zu verfügen. Als Einhard, Odo und Lucas schon durch die Tür getreten waren, eilte auch Ezra herbei. Ludwig stellte sich ihr in den Weg. Seine Augen verengten sich.
»Als Missgeburt ist dir der Zutritt zu diesem edlen Haus verwehrt«, beschied er ihr.
Sie schüttelte verärgert den Kopf und deutete auf das Portal. Das Volk unterhalb der Stufen sah unterdessen, dass der Beutel mit Kostbarkeiten noch nicht geleert war. Es begann erst zu murren, dann zu brüllen: »Mehr, mehr, mehr!«
»Hier habt ihr mehr!«, rief der Königssohn hinunter. Er versetzte Ezra einen so heftigen Stoß, dass sie das Gleichgewicht verlor und die Treppe hinabstürzte. Die Menge wich zurück.
»Sieh selbst, du elender Wurm«, rief Ludwig zu ihr hinunter. »Nicht einmal diese armen Teufel wollen dich haben. Wie sollten sie auch, wenn sich sogar deine eigene Mutter von dir abgekehrt hat! Und da wagst du es noch, in des Königs Palatium Einlass zu fordern!«
Ezra rappelte sich auf und wischte sich den Staub von Kleidung, Körper und Gesicht. Von ein paar Schrammen abgesehen, war sie unverletzt geblieben. Erschrocken starrte sie den Königssohn an, der weitere Schmähungen über sie ausschüttete. Womit hatte sie diese Beschimpfung verdient? Was hatte sie getan? Hatte der König sie im Badehaus doch erkannt und den nächtlichen Vorfall im Familienkreis zum Besten gegeben? Sie zum Freiwild erklärt? Aber weshalb hatte man ihr dann Zutritt in die capella gewährt? Ludwigs nächste Worte beruhigten sie – so verstörend der Satz auch war:
»Wir haben dich lange genug durchgefüttert, du Sohn einer gottlosen Ratte; kehre zu dem Busch zurück, unter dem du hervorgekrochen bist.« Er hob das Säckel, aus dem er zuvor so großzügig Almosen verteilt hatte, und drehte es um. Mit den Worten: »Das möge dir die Reise in die Hölle versüßen; die Blattern über dich und Deinesgleichen!«, ließ er den Rest des Inhalts die Stufen hinunterklimpern.
Ezra spürte die angespannte Stille hinter sich. In wenigen Augenblicken würde sich die Menge über sie hinweg auf Münzen und Kleinode stürzen. Doch solange Ludwig wie ein Rachegott auf dem Treppenabsatz Gericht über sie hielt, wagte es keiner, sich zu rühren.
»Ezra, wo bleibst du?«
Einhard blickte zur Tür hinaus. Er erfasste die Lage mit einem Blick.
»Der Architectulus steht unter dem Schutz des Königs, Ludwig«, sagte er mit leisem Vorwurf. Der Angesprochene verzog das Gesicht, widersprach dem Schreiber jedoch nicht und kehrte ins Haus zurück. Einhard gehörte zu den wenigen einflussreichen Menschen am Hof, die Ludwig auf seiner Seite wusste und nicht verärgern wollte. Der Königssohn führte dies auf die Tatsache zurück, dass er im Gegensatz zu seinen beiden Brüdern sehr viel Zeit mit dem Studium der Bibel verbrachte hatte. Er wäre verwundert gewesen, hätte er den wahren Grund für Einhards Zuneigung gekannt, dass der Schreiber nämlich den in seinem Glauben so Einsamen in sein ganz eigenes Bündnis der Außenseiter aufgenommen hatte. Denn ein solcher war
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