Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
bereits begegnet waren. Die meisten hatte er gewähren lassen. Manche hatte die Not dazu gezwungen, sich als Knecht zu verdingen oder andere körperliche Arbeiten zu verrichten, die Männern vorbehalten waren. Diese Frauen sahen in der Verkleidung ein notwendiges Übel und legten sie ab, wenn es ihnen wieder besser erging.
Doch es gab auch andere. Frauen, die es leidenschaftlich nach einer bestimmten Aufgabe drängte, die sich zu besonderen Leistungen berufen fühlten. Frauen, die über Talente verfügten, die ihnen Gott verliehen hatte, die sie aber ihres Geschlechtes wegen nicht ausbilden durften. Talente, die Gott und der Welt verloren gingen, wenn diese Frauen ihrer Bestimmung nicht zu folgen vermochten.
Diesem bedauerlichen Zustand hatte der König zumindest in seinem eigenen Haushalt abgeholfen. Er bestand darauf, seinen Töchtern die gleiche Bildung zukommen zu lassen wie seinen Söhnen. Zudem konnten sie alle hervorragend reiten, Bogen schießen und sich so vieler standesgemäßer Liebhaber erfreuen, wie sie wünschten.
Aber Ezra war keine Königstochter. Und sie lebte schon viel zu lange an seinem Hof, als dass aus dem Architectulus eine Architectula werden durfte. Ein Weib, dachte er, das sich als Mann ausgibt, muss mehr als ein solcher leisten, um nicht entlarvt zu werden. Es ist ehrgeiziger und oft auch erfolgreicher, denn es hat sich selbst bezwungen, sein eigenes Geschlecht. Nie darf es sich auf seinen Erfolgen ausruhen, sondern muss ständig auf der Hut sein, in seinen Anstrengungen nicht nachzulassen.
Karl entsann sich seiner ersten Begegnung mit einer Frau in Mannestracht. Er war noch sehr jung gewesen, als ihm auf einem Schlachtfeld plötzlich gewahr wurde, dass er Seit an Seit mit einem Weib kämpfte. Seine Verblüffung darob hätte ihn das Leben gekostet, wenn die unerschrockene Frau seinem Gegner nicht beherzt die Lanze in die Brust gebohrt hätte. Als er Jahre später zum König gekrönt wurde, verlieh er der Frau, die inzwischen als großer Recke gefeiert wurde, unter ihrem männlichen Namen einen Adelstitel, wohl wissend, dass dieser niemals weitergegeben werden konnte.
Seiner unersättlichen Fleischeslust zum Trotz bestimmte diese Erfahrung, wie auch die Lebensgeschichte seiner diplomatisch so umtriebigen Mutter Bertrada, seine Einstellung zu Frauen und schärfte seinen Blick. Im Laufe der Jahre entdeckte er Weiber in Männerklöstern, an Werkbänken, als Herbergswirte und Miniaturmaler verkleidet. Einmal hätte er sogar einen angesehenen Goldschmied als Frau enttarnen können, und er zweifelte nach wie vor am Geschlecht eines seiner erfolgreichsten Medici. Den er aus gutem Grund nicht zur Rede stellte. Denn er hatte beobachtet, wie ersprießlich und gewinnbringend die Arbeit ehrgeiziger Menschen in einer Welt sein konnte, die ihnen als Frauen den Zugang zu ihrer Berufung verwehrte.
Aber wie war es Ezra geglückt, ihn so lange hinters Licht zu führen? Zumal er die Wahrheit schon bei ihrer ersten Begegnung geahnt hatte, an jenem taunassen Morgen, als er hatte wissen wollen, ob ein Jüngling oder eine Maid in dem Sarazenerkleid steckte. Architectus sum.
Eine in den Sand geschriebene Lüge. Neben einer in den gleichen Sand gezeichneten Vision. Die inzwischen wahr geworden war, wenn man einmal von der fehlenden Kuppel absah. Beim ersten Beleg ihres Talentes habe ich die Wahrheit nicht mehr wissen oder gar aussprechen wollen, dachte Karl. Bemerkenswert, wie sie jetzt meinem Blick standhält, wie sie jede Faser ihres weiblichen Körpers beauftragt, ihre Angst zu verbergen. Sie ist wahrlich eine Meisterin der Täuschung.
Endlich öffnete er den Mund.
»Du weißt, was ich dich jetzt fragen werde?«
Ezra nickte unglücklich.
Karl genoss diesen Augenblick. Er kostete ihn sehr lange aus. Ein Rinnsal floss Ezras Stirn hinab. Sie kniff die Augen zu. Es war kein Wasser, sondern brennender Angstschweiß, den des Königs noch nicht gestellte Frage ausgelöst hatte.
»Eigentlich sind es zwei Fragen«, fuhr der König mit unbekümmerter Stimme fort.
Ezra fürchtete sich vor allem vor der zweiten Frage. Würde der König sie auffordern, ihre Strafe selbst zu bestimmen? Um sie dann doch in der Luft reiten zu sehen? Würde er nach den liebevollen Worten über ihren Vater zu Beginn der Begegnung Iosefos schmähen und sein Andenken in den Schmutz ziehen? Würde er ihr, wie sein Sohn Ludwig, ein Almosen hinwerfen und sie davonjagen? Würde er verlangen, dass sie ihm in sein Gemach folgte und ihm zu
Weitere Kostenlose Bücher