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Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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auch des Königs jüngster Sohn – und zwar in seiner eigenen Familie. Sein Vater verachtete ihn, seine gewitzten Schwestern machten sich über ihn lustig, und seine Brüder hielten ihn für einen beschränkten Schwächling. Gute Gründe für Einhard, Ludwig unter seine Fittiche zu nehmen.
    Der Schreiber eilte die Stufen hinab und reichte Ezra eine Hand, die sie dankbar ergriff. Tränen liefen über ihre Wangen.
    »Der König von Aquitanien ist ein guter Mensch«, versuchte Einhard, sie zu beruhigen. »Nur packt ihn manchmal leider ein unguter Übereifer. Und jetzt wisch dir das Gesicht ab, Ezra.«
    Karl fasste sich mit seinem Lob für die Ausgestaltung der Kirche kurz, erwähnte die Kuppel mit keinem Wort und brachte dann seine tiefe Trauer über den Tod des Iosefos zum Ausdruck.
    »Damit es zu keinem Missverständnis kommt«, sagte er, »ich betrachte den Sturz deines verehrten Vaters, lieber Architectulus, keinesfalls als ein Gottesurteil.«
    »Das hat niemand behauptet«, meldete sich Odo erschrocken zu Wort.
    »Nein, mein geschätzter Meister Odo, und das wird auch keiner tun. Wenn es im Leben von Meister Iosefos überhaupt ein Gottesurteil gegeben hat, dann ist es gefällt worden, als er seinen ersten Sturz in Konstantinopel überlebt hat. Post mortem erkläre ich ihn also offiziell für unschuldig am Tod seines Meisters. Und jetzt bitte ich euch andere, mich mit dem Architectulus allein zu lassen.«
    Odo und Einhard verließen den Raum, Lucas blieb unschlüssig an der Tür stehen.
    »Auch du bist entlassen, Lucas.«
    »Verzeih, Herr König«, meldete sich Lucas zu Wort. »Meine Anwesenheit könnte der besseren Verständigung dienen. Unsere langjährige gemeinsame Arbeit hat mich mit Ezras Gestik und Mimik sehr vertraut gemacht. Ich könnte beim Übersetzen behilflich sein.«
    Ein Lächeln zuckte um des Königs Mund, als er Lucas noch einmal streng aufforderte, sich zu entfernen.
    Zu Ezras Überraschung bedeutete ihr der König, sich zu setzen. Sie zog einen Hocker heran und ließ sich auf seiner Kante nieder.
    »Lass mich dir noch einmal mein Beileid aussprechen, mein lieber Architectulus«, begann Karl. »Es ist höchst betrüblich, dass du nach diesem tragischen Unfall keinen Ort hast, an dem du um deinen Vater trauern kannst.«
    Ezra schüttelte den Kopf und malte mit den Händen die Umrisse der capella in die Luft.
    »Es ist schön«, sagte Karl, »dass du der Seele deines Vaters in jenem Gebäude gedenken kannst, dem er seine letzten Lebensjahre gewidmet hat. Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um seine Grabstätte und deine Mutter zu finden. Bislang leider erfolglos. Aber ich habe die Suche nicht aufgegeben. Du verstehst meine Worte?«
    Ezra nickte.
    »Ich freue mich, dass deine Stummheit dich nicht daran gehindert hat, unsere Sprache zu erlernen.« Plötzlich verschwand jegliche Weichheit aus seiner Stimme. Herrisch befahl er: »Nimm das Haar aus dem Gesicht!«
    Ezra blickte erschrocken auf.
    Der König nickte ihr aufmunternd zu. »Los!«
    Mit den gespreizten Fingern der linken Hand fuhr sie sich rasch durch den Schopf.
    »Nein«, sagte Karl. »Nicht so. Befrei dein ganzes Gesicht von diesen Zotteln.« Er deutete auf eine große Wasserschale, die auf einem kleinen Tisch in der Ecke stand.
    »Steck deinen Kopf da hinein«, forderte er Ezra auf, »bis alle Haare nass sind. Und dann streiche sie dir ganz aus dem Gesicht und sieh mich an.«
    Er schickt mich zur Schlachtbank, dachte Ezra. Hier kann ich nicht einfach zur Tür hinausrennen.
    Sie tat, wie ihr befohlen.
    »Stell dich jetzt vor mich.«
    Der König zeigte keinerlei Regung und sprach kein Wort, als er in das fein geschnittene bloße Antlitz des Menschen sah, den er bislang Architectulus genannt hatte und dem das nachtdunkle nasse Haar kaum weiter als bis an die Schultern reichte.
    Unter seinem stetigen Blick wurde es Ezra immer unbehaglicher.
    Er weiß es, dachte sie; überlegt er, wie er mich bestrafen soll? Wird er mich mit Schimpf und Schande davonjagen? Wohin schafft man unliebsame Frauen im Frankenland? In Bagdad würde man mich in einen Harem stecken.
    Karls letzte Zweifel waren in der Tat geschwunden. Sein Architectulus war ein Mädchen, ein ausnehmend schönes zudem und höchstwahrscheinlich dasselbe, das ihm im Badehaus so verwegen die Stirn geboten hatte. Ein mutiges und zielstrebiges Geschöpf. Er würde sich diese Tatsache zunutze machen.
    Ezra wäre überrascht gewesen, wie viele als Männer verkleidete Frauen dem König

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