Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
Käfig in der winzigen Kammer auf und ab.
»Wie kann das sein?«
Ezra zog es vor, ihn darüber nicht aufzuklären. Sie zuckte mit den Schultern.
»Furchtbar, furchtbar! Wir müssen augenblicklich von hier verschwinden. Wo sollen wir hin? Was können wir tun? Was geschieht jetzt nur?«
Ezra streckte eine Hand aus, zog Lucas wieder neben sich aufs Bett und streichelte seine Wange.
»Nichts«, antwortete sie. »Beruhige dich, Lucas. Der König möchte seine Kuppel haben. Die ihm kein Franke wölben kann. Er setzt sein Vertrauen in das Kind von Meister Iosefos, und da ist es ihm scheinbar gleich, ob dieses nun männlich oder weiblich ist. Wir machen also weiter wie bisher.«
»In jeder Hinsicht?«
Sie nickte und bemerkte: »Nur in einer, Lucas, in einer ganz bestimmten Hinsicht müssen wir jetzt noch sehr viel achtsamer sein. Sonst ist alles verloren.«
bagdad, sommer 798
Alle Geschenke des Frankenkönigs hatten den Kalifen erreicht, von jenen Gegenständen abgesehen, die Lantfrid und Sigismund am Körper getragen hatten. Es reute Isaak zutiefst, dem Verlangen der beiden von Karl nach Bagdad entsandten Grafen nachgegeben und sich mit ihnen sowie den beiden Hundeführern und deren Meute so kurz vor Erreichen ihres Ziels von ihrer kleinen Karawane gelöst zu haben. Ihre Eile, die sagenumwobene Runde Stadt zu erreichen, hatte die beiden fränkischen Edelleute das Leben gekostet. Isaak fühlte sich schuldig. Nach den Berichten über Beduinenangriffe hätte er damit rechnen müssen, dass vor den Toren Bagdads Beutejäger auf Reisende lauerten. Zum Glück waren Kämpfer aus der Stadt rechtzeitig aufgetaucht, um ihn selbst, den hinter ihm ziehenden Rest der Delegation und die Geschenke in Sicherheit zu bringen.
Zu seinem Erstaunen wurde Isaak diesmal nicht in den Audienzsaal des Kalifen geführt. Der Wesir brachte ihn zu einem lang gestreckten Gebäude, aus dem die grauenvollsten Geräusche drangen, die Isaak je in seinem Leben gehört hatte.
»Dies ist der Palast der wilden Tiere«, erläuterte Yahya. »Nicht vielen Menschen ist vergönnt, ihn zu betreten, und noch viel wenigeren in Anwesenheit unseres geliebten Herrschers.«
Ehrfurchtsvoll deutete er auf eine schwarz gekleidete Erscheinung, die am Ende des langen Ganges hockte und interessiert etwas beobachtete, das Isaaks Blick noch entzogen war.
Yahyas Erklärung, dass sich in diesem Bereich die Löwen befänden, fand Isaak höchst überflüssig, da sie an unzähligen dieser Raubtiere rechts und links des Ganges vorbeiliefen. Manche lagen, scheinbar gelangweilt oder schlafend, auf dem Stroh in ihrem Käfig, manche verschlangen riesige rohe Fleischstücke oder jagten große Vögel, die wild um sie herumflatterten, andere strichen bedrohlich fauchend durch ihren Käfig, und wieder andere sprangen an die dicken Gitter und ließen ihre Tatzen zwischen den Stäben hervorschnellen. Eine unbehagliche Umgebung. Der Rauch aus unzähligen Duftbecken entlang des Ganges vermischte sich mit den Ausdünstungen der Tiere zu einem solch unerträglich scharfen Gestank, dass der noch immer geschwächte Isaak weitaus mehr damit beschäftigt war, bei Bewusstsein zu bleiben, als Yahyas langwierigen Ausführungen zu folgen.
Der Wesir blieb stehen, als sie in der Mitte des Ganges angekommen waren.
»Dir wird die Ehre zuteil, Jude, drei Löwen auszuwählen«, sagte er mit einer ausladenden Handbewegung.
Isaak brach der Schweiß aus. Wozu sollte er drei Löwen auswählen? Irgendetwas in Yahyas Vortrag musste ihm entgangen sein. Hinter seiner Stirn arbeitete es. Er war nicht länger nur Fernhändler, sondern inzwischen auch Botschafter des fränkischen Königs und hatte dessen Geschenke mitgeführt. Gleiches wurde gern mit Ähnlichem vergolten. König Karl hatte ihm Hunde mitgegeben. Sollte er etwa im Gegenzug drei lebendige Löwen ins Frankenland schaffen? Das war ein unmögliches Unterfangen, aber weigern konnte er sich auch nicht.
»Es wäre der Ehre König Karls förderlich, wenn deine Wahl auf die drei wildesten dieser noblen Tiere fiele.«
Die mich zerfleischen werden, ehe wir Bagdad überhaupt verlassen haben, dachte Isaak.
»Jedem dieser hundert Löwen ist ein Sklave zugeteilt, der ihn zähmen soll«, fuhr Yahya fort. »Bedauerlicherweise überlebt nicht jeder von ihnen diese Aufgabe. Die es schaffen, sich die Tiere untertan zu machen, werden vornehm ausgestattet, erhalten Geschenke und dürfen an Festtagen die mit Ketten und Reifen geschmückten Löwen an der Leine
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