Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
weibisch flennender Sohn wird weiß Gott ein solcher nie werden können. Geht hin, ehrt das Andenken des großen Iosefos und nutzt das Wissen, das ihr offenbar jetzt erst kennt, um auf meine capella zu Ehren unseres allmächtigen Vaters im Himmel ein angemessenes Gewölbe zu setzen.«
20. juni 802
Ganz so einfach, wie es Einhard und Odo dem Kaiser vorgestellt hatten, war das neue Lehrgerüst, also das alte Zeltdach, nicht zu verstärken. Odo reichte es nicht aus, neue Stützen in die oberen Fensterbrüstungen zu stellen, auch wenn sie schon so dicht standen, dass das Sonnenlicht nur gedämpft durch die Öffnungen fiel. Er bestand darauf, zusätzlich noch horizontale Balken von einem Fenster zu dem gegenüberliegenden zu legen, die durch Querhölzer an den Außenwänden zu verankern seien, um die letzten seitlichen Schubkräfte aufzufangen. Was auch die beiden jungen Leute für einen vernünftigen Vorschlag hielten.
Eine gefährliche Arbeit für die Zimmerleute, die nach Ezras Zeichnungen das Fachwerk herstellten, das vom Boden aus bald wie ein schwebender blätterloser Wald erschien.
Maria bangte um das Leben ihrer Brüder, die in solch schwindelerregender Höhe auf schmalen Brettern nicht nur das Gleichgewicht halten, sondern dort hämmern, schleifen, sägen und einpassen mussten.
»Jeden Tag bete ich darum, dass keiner von ihnen hinabstürzt«, sagte sie, als Ezra am frühen Morgen ihre Hütte betrat. Sie nahm das Kind von ihrer Brust und reichte es der Frau, die als Mann verkleidet war und als solcher nicht einmal für sie, die doch alles wusste, den Mund zum Sprechen öffnete. »Deine Tochter ist jetzt satt«, setzte sie hinzu.
Ezra drückte Dunja sanft an sich, nickte dankend und ignorierte den Stich in ihrem Herzen. Ihre eigene Brust gab schon lange keine Milch mehr her. Dunja lebte bei der Frau, die ihr den Namen gegeben hatte, wurde von dieser versorgt und gestillt. Maria selbst hatte dies vorgeschlagen, als sie nach Aachen zurückgekehrt waren. Ezra könne schließlich nicht mehrmals am Tag ihre Arbeit unterbrechen und zu Alboins recht fern gelegenem Haus eilen, um ihrer Tochter die Brust zu geben. Schweren Herzens musste Ezra dies als vernünftige Lösung akzeptieren.
In der Rückschau erschienen ihr die letzten Wochen in der lauten, verräucherten Hütte zu Prüm wie das Paradies. Mit dem Kind neben sich war sie eingeschlafen, und am Morgen hatte sie als Erstes in das winzige Gesicht dieses großen Wunders geschaut. Nichts anderes war mehr wichtig gewesen. Wie nebenbei hatte sie die Zeichnungen für das Lehrgerüst angefertigt. Ihre Liebe zu Lucas hatte sich in einem lebendigen warmen Wesen manifestiert, das sie mit Allahs Hilfe gemeinsam erschaffen hatten und dessen Überleben von ihnen abhängig war. Wie kalt fühlte sich dagegen doch der Stein an, aus dem ihr anderes gemeinsames Werk bestand! Gleich Odo, dem ahnungslosen Großvater, begann sie am Sinn ihrer Aufgabe zu zweifeln.
Sie wurde unleidlich und ungerecht, vor allem Lucas gegenüber, dem einzigen Menschen, mit dem sie sprach. In der Abgeschiedenheit ihrer Kammer schimpfte sie des Nachts über ihn, über seinen Vater, über die Maurer, die Steinsetzer, die Zimmerleute und die Maler, die ihre Zeichnungen unzulänglich auf die Gewölbedecken übertrugen, doch als sie anhub, sich auch über Maria zu beschweren, die Dunja nicht die nötige Sorge angedeihen lasse, schritt Lucas ein.
»Maria hat uns mehr als nur eine Wohltat erwiesen, Ezra, über sie darfst du nicht lästern.«
Daraufhin schwieg sie betroffen, denn seine Worte hatten sie an eine berühmte Botschaft des Propheten erinnert: Hüte dich vor der Bosheit dessen, dem du eine Wohltat erwiesen hast.
Ja, ich bin boshaft, dachte sie. Ich nehme es Maria übel, dass ich ihrer bedarf, um aus der Not herauszukommen. Aus der steinernen Not, eine Kuppel wölben zu müssen. Weil ich das Andenken meines Vaters zu ehren habe und mich ihm gegenüber verpflichtet fühle. Aber ist die Verantwortung gegenüber einem hilflosen lebenden Kind nicht viel größer als die gegenüber einem Toten, der in Allahs duftigen Gärten wandelt?
Sie begann, ihre Rolle als Architectulus infrage zu stellen, und zwar nicht nur, wenn sie die empfindlicher gewordene zusammengedrückte Brust schmerzte. Mehr als jemals zuvor litt sie an ihrer Lebenslüge und fragte sich bang, was aus einer Tochter werden sollte, die einen Mann zur Mutter hatte. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, ihr Kind später, wenn der Kaiser sie aus
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