Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
Vom Netzwerk:
war Abul Abbas stehen geblieben, als hätte er geahnt, dass unmittelbar vor ihm Schnee- und Geröllmassen herabdonnern und den Pfad sowie alles, was sich an dieser Stelle befand, mit in die Tiefe nehmen würde. Jetzt glaubte auch Isaak, was er zuvor ins Reich der Mär verwiesen hatte: Der weiße Elefant war ein Glücksbringer, der vor Gefahren warnte; ein hellsichtiges Wesen. Das sich übrigens nach dem Unglück mühelos dazu bewegen ließ, eine weite Strecke langsam rückwärts zu schreiten, bis ein neuer Pfad gefunden war.
    Hiernach traf sie kein weiteres Unglück mehr. Das Wetter blieb freundlich, und es hätte noch zügiger vorangehen können, wären sie durch menschenleeres Gebiet gezogen. Da sie sich aber an die alten Römerstraßen halten mussten, kamen sie durch Ansiedlungen, deren Bewohner angesichts des Elefanten gänzlich außer sich gerieten. Gelegentlich musste Isaaks Begleitung zu unschönen Mitteln greifen, um die Reise fortsetzen zu können. Jetzt aber befand sich das Ziel in Reichweite.
    Isaak erwog kurz, auf dem Rücken des Elefanten in Aachen einzureiten, verabschiedete diesen Gedanken aber rasch als ausnehmend unpassend. Er mochte zwar zum Diplomaten des Kaisers aufgestiegen sein, aber gerade als ein solcher begriff er, dass er sich zurückhalten musste. Am Hof durfte kein Munkeln über irgendeine Anmaßung des jüdischen Fernhändlers aufkommen, selbst wenn dieser als Mittelsmann zwischen dem christlichen Kaiser und dem islamischen Kalifen auftrat.
    Dennoch befand er, Abul Abbas dürfe nicht gänzlich reiterlos die Hauptstadt des fränkischen Reiches betreten. Ein Mann auf dem Rücken des Dickhäuters würde dessen kolossale Statur noch eindrucksvoller unterstreichen.
    Andererseits war Abul Abbas ein höchst edles Geschenk, und der Hof könnte es ihm übel nehmen, dieses durch das Aufsitzen eines Unwürdigen möglicherweise zu beflecken. Kaiser Karl brauchte ja nicht zu wissen, dass unterwegs jeder der Reisenden mehrmals die Gelegenheit genutzt hatte, vom Elefantenrücken aus die Gegend zu betrachten und sich dort vom Gehen oder dem Sitz im Pferdesattel auszuruhen.
    Aus der Ferne schienen sich Menschen zu nähern. Isaak kniff die Augen zusammen, um klarer sehen zu können. Er machte einen großen ungeordneten Zug aus. Gerade, als er seinen Begleitern zurufen wollte, sich zu wappnen, sah er, wie sich ein offenbar junger Mann aus der Menge löste und in beeindruckender Geschwindigkeit auf seine Delegation zustürmte.
    Er läuft wie ein Mädchen, das einem bösen Schicksal zu entfliehen sucht, dachte er, und im gleichen Augenblick dämmerte ihm, wer der Mensch war, der es so eilig hatte, die Delegation aus Bagdad zu begrüßen. Und da wusste er auch, wer auf dem Elefanten in Aachen einreiten konnte: Niemand war würdiger als der Abkömmling eines früheren Geschenkes des Kalifen an seinen fränkischen Bruder.
    Und so kam es, dass der Wunsch eines kleinen Kindes aus Bagdad Jahrzehnte später in einem Land des Nordens erfüllt wurde, ganz wie es der Imam vorausgesagt hatte. Gott ist mit den Geduldigen .
    märz 803
    »Gib dich zu erkennen!« Die Stimme hinter ihr klang böse und bedrohlich und hätte sowohl von einem Mann wie auch von einer Frau kommen können. Ezra wandte sich um. Sie wollte entsetzt zurückweichen, als sie das blau schimmernde gesichtslose Wesen aus einer bauchigen Flasche herauswabern sah. Doch als die langen unförmigen Arme wie Tentakel nach ihr griffen, konnte sie sich nicht rühren. Der Dschinni packte sie. Unter höhnischem Lachen schüttelte und rüttelte er sie, dass ihr Hören und Sehen verging.
    Mit einem Ruck schoss sie hoch. Ein Traum, dachte sie, doch die Erleichterung währte nur kurz. Der Dämon schüttelte immer noch. Nicht nur sie, sondern das ganze Gebäude, die ganze Welt. Es knarzte, klapperte, polterte, klirrte und schepperte, als wollte ebendiese Welt aus den Fugen gehen. Kreischen und Schreien von nahbei und aus der Ferne drangen in die fensterlose, kleine Kammer, übertönt nur von lautem Krachen, als stürzten ganze Häuser ein.
    Lucas war aus dem Bett gesprungen und hatte sich hastig seinen Kittel übergeworfen.
    »Erdbeben«, keuchte er. »Ein ganz schlimmes. Ins Freie mit dir, Ezra, schnell, schnell, zieh dich an, nein, keine Zeit für die Brustbinde, geh! Ich hole meinen Vater.«
    Die Tür der stockfinsteren Kammer knallte nach dem nächsten Erdstoß hinter ihm zu. Und sie blieb verschlossen, so verzweifelt sich Ezra auch gegen die Tür drückte. Offenbar

Weitere Kostenlose Bücher