Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
deutete dann auf das Haus.
»Ich soll übersetzen?«, fragte er aufgebracht. »Du scheinst dich doch auch ohne Worte mit dieser Dirne und ihren Freiern bestens zu verstehen.«
Er selbst aber verstand gar nichts mehr, als die Frau wieder aus dem Haus stürzte und Ezra mit breitem Lächeln einen Säugling überreichte. Ein fürchterlicher Verdacht stieg in Lucas auf. Wenn dies Ezras Kind war, mussten sich Iosefos und sein Sohn schon erheblich länger in Aachen aufgehalten haben, als sie vorgegeben hatten. Wer waren diese Menschen, die in seinem Haus wohnten und sich Zugang zum König erschlichen hatten? Ein Mörder aus Konstantinopel und sein liederlicher Sohn, der offensichtlich guten Grund hatte, den Mund nie zum Sprechen aufzumachen.
Ezra achtete nicht auf die Heftigkeit, mit der Lucas sprach. Zu sehr war sie von dem kleinen Wesen begeistert, das ihr Heda hinhielt.
Sie wäre entsetzt gewesen, hätte sie geahnt, was in Lucas vorging. Nicht einen Augenblick dachte sie daran, wie ihr Verhalten vor Hedas Haus auf ihn wirken könnte. Lucas hatte bisher alles, was sie tat, zeichnete und dachte, ohne Worte verstanden. Seitdem sie in ihm den Jüngling wiedererkannt hatte, den ihr Allah in den Wüstenturm gesandt hatte, fühlte sie sich mit ihm zutiefst verbunden; daran hatte auch die nur kurz währende Unstimmigkeit gleich nach ihrer Ankunft in Aachen nichts geändert. Sein Gebaren ihr gegenüber verriet, dass auch er um diese Seelenverwandtschaft wusste. Nie war in ihr der Gedanke aufgekommen, dass er sie einmal derart gründlich missverstehen könne.
Die Wucht dieser Erkenntnis sollte sie erst später treffen. Jetzt, da sie zum ersten Mal ein Kind im Arm hielt, achtete sie nicht auf Lucas, sondern war ganz vom Zauber neuen Lebens erfüllt.
So zart, klein und bedürftig, dachte sie betroffen, welch ein Wunder, dass es lebt. Aber wie wird es in solcher Armut, solchem Dreck aufwachsen können? Welch großes Glück ich doch gehabt habe, in Sicherheit, Sauberkeit und Wohlstand groß werden zu können. Was nur soll aus diesem Winzling werden? Wie kann ich dieser Frau helfen?
»Nicht so«, sagte Heda, stellte sich dicht neben sie und zeigte ihr, wie sie den Kopf des Säuglings richtig halten sollte.
Was für ein rührendes Bild, dachte Lucas angewidert und fragte die Hure: »Soll ich jetzt übersetzen, dass du mehr Geld für das Kind verlangst?«
»Nein«, sagte Heda, »der Pfennig war mehr als genug.« Entschuldigend setzte sie hinzu: »Aber ich wollte ihn nicht für ein besseres Haus ausgeben, sondern für mein Kind aufheben. Damit es später etwas hat. Ich habe ja meine Arbeit. Für das Essen aus dem Küchenhaus bin ich auch sehr dankbar.«
Lucas beschloss, sich über nichts mehr zu wundern oder zu empören. Er würde schon noch herausfinden, wie Ezra Lebensmittel aus der königlichen Küche für seine heimliche Familie abzweigte.
»Was soll ich übersetzen?«, fragte er sachlich.
Heda sah ihn beschwörend an. »Frag ihn, ob der Zauber geholfen hat, Fredo zu finden. Er fehlt mir so. Er hat doch seinen Sohn noch nie gesehen!«
Lucas ließ sich mit der Übersetzung Zeit. Nichts ergab mehr einen Sinn. Sein Blick schweifte die Gasse hinab. An deren Ende stand das Haus, dessen Mauern die Überraschung bargen, die er Ezra versprochen hatte. Eine Entdeckung aus seiner Kindheit, die jetzt ihr Skelettproblem lösen würde. Er hatte es geradezu ergötzlich gefunden, Einhard mit der Bestattung von jahrhundertealten fleischlosen Gebeinen heidnischer römischer Besatzer ruhig zu stellen, und auf Ezras Mitwirkung gesetzt. Aber nach allem, was ihm jetzt zur Kenntnis gelangt war, konnte er dem Sohn des Iosefos nicht mehr vertrauen. Wer weiß, was dieser ihm noch alles verschwiegen hatte. Er übersetzte Hedas Frage und fügte verbittert hinzu: »Meinem Vater gegenüber habe ich euch immer verteidigt. Aber jetzt weiß ich, wie recht er hat, euch Oströmer zu verdammen. Nie zuvor hat mich ein Mensch so getäuscht wie du, Ezra. Mein Freund bist du nicht mehr.«
Die Verachtung in seiner Stimme ließ Ezra erzittern.
kapitel 6
der wolf
Kehrt der Bedrücker ein in eines Volkes Land,
So bleibt den Bewohnern nichts als fortzuziehn.
Aus 1001 Nacht (die 147. Nacht)
paderborn, herbst 795
W elch ein misstrauisches Völkchen, dachte Isaak ungehalten, als er die feindliche Aufstellung der kleinen Männergruppe sah, der er sich nahe der Ansiedlung Büren am Ufer der Alme näherte. Ich bin ganz allein und wirke doch nicht im Mindesten
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