Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
aussieht, wird dir eine Frau beschreiben, der er ebenfalls übles Leid zugefügt hat. Nur so kann die Gerechtigkeit obsiegen.«
Sie hob ratlos die Schultern. Was würde ihr der Imam in einer solchen Lage raten?
»Komm mit«, schlug Isaak vor. »Ich werde dir die Frau vorstellen. Dann kannst du dir immer noch überlegen, ob du das Deinige dazu beitragen wirst, den Mord an gläubigen Muslimen zu rächen sowie den Raub des Heiligen Buches und eures anderen Eigentums, das euch der Beherrscher der Gläubigen anvertraut hat.«
Er führte sie in das Viertel der Ärmsten der Armen. Die hatten sich in Ruinen der Römer eingerichtet und sie mit Holz, Lehm und Steinen notdürftig gegen die Witterung geflickt. Diese Menschen würden jedoch alle bald eine neue Bleibe finden müssen; jeden Tag rückte die Schar von Abräumern näher, die im Auftrag des Königs die roten Ziegel aus dem alten Gemäuer herausbrach. Aus den Ziegeln musste jener Mörtel gewonnen werden, der die Steine von Karls Kirche zusammenhielt und der später den roten Putz hergeben würde, hinter dem die vielfarbige, unregelmäßige Gesteinswand verschwinden sollte.
Nachdem die ersten Steine des Fundaments in dicke Lagen der hellroten Masse gedrückt worden waren, hatte Iosefos, der Erfinder dieses Mörtels, befriedigt festgestellt: »Diese Steine sind bestens gebettet.«
Für die Menschen in jenem Viertel galt das weniger denn je zuvor.
Heda teilte sich ihre Ruine mit vier weiteren Huren. Da zwei von ihnen gerade ihrer Arbeit nachgingen, konnte sie Ezra und Isaak nicht ins Haus bitten. Isaak ließ sich auf dem morschen Baumstamm vor der Ruine nieder, und Ezra hockte sich nach Art der Sarazenen daneben. Heda setzte sich mit ausgestreckten Beinen auf die Erde, hielt sich den Bauch und begann zu erzählen.
Da ihnen sonst niemand lauschte und für Heda alles Nichtfränkische gleich fremdartig klang, übersetzte Isaak ihre Worte ins Arabische. Bei den lange vermissten vertrauten Klängen – Iosefos sprach in Aachen nur Griechisch oder Latein mit ihr – ging Ezra das Herz auf. Hedas Geschichte jedoch entsetzte sie. Wie schrecklich es doch sein musste, als Frau erst einem Mann ausgeliefert und später auf sich allein gestellt zu sein, ganz gleich, ob in Bagdad oder in Aachen . Die Bestimmung der Frau schien stets darauf hinauszulaufen, einem Mann oder vielen Männern zu Willen sein zu müssen. Galt denn für das Weib nicht, dass Allah den Menschen mit dem nötigen Werkzeug erschaffen hatte, um Wissen zu erlangen; jenem Werkzeug, das aus Hören, Sehen und Weisheit bestand? So etwas stand doch in der 16. Sure, oder nicht? Ach, wenn sie doch wieder in ihrem Koran lesen könnte – jenem Buch, aus dem dieser Mann, von dem Heda so Entsetzliches erzählte, eine Seite herausgerissen hatte.
»Wirst du den Unhold zeichnen?«, fragte Isaak, als Heda mit ihrer Erzählung zu Ende war.
Ezra nickte. Allah hatte sie mit einem Werkzeug ausgestattet. Es konnte nicht sein Wille sein, dass der mordende Mädchenhändler ungestraft blieb. Es konnte nicht sein Wille sein, dass sein Buch zerfleddert wurde.
Isaak erhob sich und zog einen dünnen, glatten, weißen Stein aus seiner unendlich tiefen Tasche. Er legte ihn vor Ezra hin und drückte ihr ein Stück Kohle in die Hand.
Große oder schmale Augen, fragte er Heda, rundes, langes oder viereckiges Gesicht, dichte oder dünne Augenbrauen, große oder kleine Nase, Bart oder nackte Wangen, ein forsches oder ein fliehendes Kinn? Für Ezra war es eine lange, mühsame und sehr schmutzige Angelegenheit.
Als Heda in Tränen ausbrach und die Hände nach dem Gesicht des Verbrechers ausstreckte, hielt Isaak das Bildnis für gelungen. Er zog ein Stück geweißtes Pergament, eine hölzerne Unterlage, eine Gänsefeder mit angespitztem Kiel und eine kleine silberne Dose aus den unendlichen Tiefen seiner Tasche.
»Tinte aus der Rinde des Schlehendorns«, sagte er, als er die Dose öffnete und Ezra eine dunkle Substanz zeigte. Er bat Heda um einen Becher mit etwas Wasser. »Auf meinen Reisen leistet sie mir gute Dienste. Und wenn ich sie flüssig gerührt habe, überträgst du damit deine Zeichnung aufs Pergament.«
Ezra musste rasch arbeiten, da der Sonnenuntergang nahte.
Unterdessen konnte Heda den Blick nicht von dem entstehenden Porträt lösen.
»Dein Freund ist ein Zauberer«, sagte sie ehrfurchtsvoll zu Isaak. Der übersetzte sehr frei: »Sie sagt, du hast diesem Bild wahrlich Leben eingehaucht. Nun, genau das wird dem Mann das
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