Die Gabe des Commissario Ricciardi
den Gründen für ihren Kummer. Soweit er sich erinnern konnte, das heißt sein ganzes Leben lang, hatte er Rosa nur einmal weinen sehen:
als seine Mutter gestorben war. Zwar war er bei ihr gewesen, als ihre Geschwister beerdigt wurden, und sie hatten gemeinsam manch traurigen Moment verbracht, wie den endgültigen Abschied von seinem Elternhaus in Fortino, doch er hatte sie nie weinen sehen.
Und jetzt saß sie völlig aufgelöst vor ihm auf dem Wohnzimmersessel und konnte gar nicht mehr damit aufhören.
– Rosa, bitte, hör doch auf zu weinen, ich weiß ja nicht, was ich tun soll. Ich mach' mir große Sorgen. Was sagst du denn, du bist nicht unnütz, ich brauche dich. Red bitte keinen Unsinn.
Als er das sagte, merkte er, dass es stimmte und dass er nichts anderes auf dem Nachhauseweg gedacht hatte: Seine alte Kinderfrau war seine ganze Familie; ohne sie wäre er unendlich viel einsamer, als er sich ohnehin schon fühlte.
– Ach, aber ich werde doch zu einer Last für Sie. Bald werd' ich mich nicht mal mehr alleine anziehen können, geschweige denn kochen, bügeln und fürs Haus sorgen. Ich bin alt und krank und mache nur Ärger …
Ricciardi kniete sich neben dem Sessel auf den Boden. Unsicher streckte er eine Hand aus und streichelte der Frau, die sich jetzt verzweifelt das Gesicht bedeckte, langsam über ihre grauen, zu einem Knoten zusammengebundenen Haare.
– Hör jetzt auf. Du bist nicht unnütz, ganz im Gegenteil, ich muss verrückt sein, weil ich dich in deinem Alter noch so viel arbeiten lasse. Weißt du, was wir morgen machen? Wir stellen ein Dienstmädchen ein, das kann dann die Hausarbeit machen und du weist es an. Was meinst du?
Mit einem Ruck hob Rosa den Kopf und setzte eine kriegerische Miene auf:
– Sind Sie verrückt? Eine fremde Frau im Haus, die uns bestiehlt? Ich hätte mehr Mühe, sie zu kontrollieren, als wenn ich die Dinge selbst mache. Ach so, ich hab' ja ganz vergessen, dass Ihr Geld Sie überhaupt nicht kümmert: Wenn ich nicht wäre, hätten die Bauern im Dorf Sie schon bis aufs Hemd ausgezogen.
Endlich die Rosa, die er kannte.
– Wie du möchtest, du entscheidest. Vielleicht könnten wir jemanden aus dem Dorf kommen lassen. Jemanden, bei dem du dich wohlfühlst, vielleicht eine deiner Nichten, was meinst du? Nur um dir zu helfen.
Verärgert fuchtelte Rosa mit der Hand durch die Luft, als wolle sie eine Stechmücke verscheuchen:
– Mal sehen. Im Moment kommt es nicht in Frage.
Ricciardi nickte. Er streichelte ihr immer noch den Kopf, was auf sie eine beruhigende Wirkung zu haben schien. Er hätte alles getan, um sie nicht mehr weinen zu sehen.
– Also, willst du mir jetzt sagen, was um Himmels willen passiert ist? Warum hast du denn so bitterlich geweint?
Rosa seufzte tief und hob ihre geschlossene Hand vor Ricciardis Gesicht. Dann öffnete sie sie langsam und er sah darin die Bruchstücke von etwas unbestimmt Vertrautem.
– Ja? Was ist das?
Rosa tat verzweifelt:
– Sie erkennen es nicht mal wieder. Es ist das Jesuskind von Ihrer Mutter, der Baronin. Ich hab's fallen lassen, weil ich nicht mal mehr dazu in der Lage bin, etwas in der Hand zu halten!
Wieder liefen ihr Tränen übers Gesicht und Ricciardi zog sich das Herz in der Brust zusammen.
– O nein, bitte fang nicht wieder an! Das ist doch nicht
schlimm, es ist nur ein altes Stück Keramik, wir können es bestimmt reparieren. Vielleicht reicht es sogar, es zu kleben. Ich dachte schon, es sei was Gravierendes passiert, aber das ist doch bloß ein Kinkerlitzchen.
– Das ist überhaupt kein Kinkerlitzchen. Ich bin sehr traurig darüber. Die Figur war schon sehr alt, und Ihre Mutter legte großen Wert darauf, dass ich Ihnen jedes Jahr die Krippe aufbaue!
Ricciardi musste fast lächeln, doch er wollte nichts herunterspielen, was seiner Kinderfrau wichtig war:
– Also gut, wir kaufen ein neues Jesuskind. Ich hab' gehört, dass das zu einer richtigen Krippe dazugehört: Man soll immer wieder etwas hinzufügen, ein oder zwei Teile im Jahr.
Rosa blieb stumm. Sie betrachtete ihre Hand. Plötzlich hob sie sie hoch und sagte:
– Sehen Sie. Sehen Sie her.
Ricciardi bemerkte das Zittern, wieder mit einem Stich im Herzen, der stärker war als vorher. Eine Weile sagte er nichts, dann nahm er Rosas Hand und küsste sie zärtlich:
– Ganz ruhig, mach dir keine Sorgen, beruhige dich. Du wirst sehen, das ist nichts. Und setz dich bitte sofort mit deiner Familie in Verbindung, lass auf dem schnellsten Weg eine
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