Die Gabe des Commissario Ricciardi
man ja bald keinen Fuß mehr vor den anderen setzen. Und wie das duftet! Wie soll man's da schaffen, aufs Mittagessen zu warten?
Dank seines geringeren Körperumfangs schlängelte sich Ricciardi etwas leichter durch die Menge.
– Ausgerechnet jetzt muss Weihnachten sein! Das macht uns die Arbeit nicht gerade leichter. Es wird ein langer, mühsamer Weg werden in diesem ganzen Treiben.
Im Präsidium wurden sie bereits erwartet: Ponte, der Assistent des stellvertretenden Polizeipräsidenten Garzo, der seinerseits Chef des mobilen Einsatzkommandos war, passte sie am Fuß der breiten Freitreppe ab. Wie fast alle Angestellten des Präsidiums war er überzeugt, dass Ricciardi Unglück brachte und irgendwie mit dem Teufel im Bunde stand. Er schloss das aus Ricciardis ungewöhnlichen Ermittlungsmethoden, seinem Einzelgängertum und dem mangelnden Interesse für Beförderungen und Karriere trotz beruflicher Erfolge.
Ein merkwürdiger Typ, dieser Kommissar. Für Ponte, ein abergläubisches, ängstliches Kerlchen, gab es nur eine Lösung: jeden Kontakt zu ihm tunlichst zu vermeiden. Und ihm nur im äußersten Notfall in diese unglaublich grünen Augen zu schauen, die, soviel er wusste, ein Fenster zur Hölle waren.
– Guten Tag, Commissario. Brigadiere …
Maione machte keinen Hehl aus seiner Verachtung für Ponte – einen Polizisten, der freiwillig den Butler des Vizepräsidenten spielte! Da er außerdem wusste, warum der Mann Ricciardi beim Reden nicht ins Gesicht sah, wurde er ausgesprochen angriffslustig.
– Sieh mal einer an, wer da aus der Kanalisation aufgetaucht ist. Was willst du, Ponte? Wir haben zu tun, wir arbeiten an einem Mordfall, vielleicht weißt du ja noch, was das ist.
Ponte überhörte die Provokation; er beherrschte es perfekt, Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen. Einen unbestimmten Punkt am Boden fixierend, antwortete er:
– Ich weiß, ich weiß, Brigadiere. Deshalb bin ich ja hier. Der Vizepräsident möchte Sie umgehend sehen.
– Unglaublich: Wir wissen nicht mal richtig, was los ist, und schon möchte Garzo Meldung haben. Na gut, bringen wir
es gleich hinter uns. Umso schneller kommen wir zum Arbeiten.
Vizepräsident Angelo Garzo war überzeugt, sehr großes diplomatisches Geschick zu besitzen. Er hatte seine ganze Karriere darauf aufgebaut, auch wenn die Kollegen, die er mittels übler Nachrede und Beziehungen überflügelt hatte, dies anders beurteilen würden.
Im Grunde hatte auch die Familie seiner Frau, insbesondere ihr Onkel, der Präfekt von Salerno, nicht unerheblich dazu beigetragen, doch Garzo zog es vor, die Ursachen für seinen beruflichen Werdegang in Begabung und Ehrgeiz zu sehen.
Während er auf Ricciardi wartete, warf er einen Blick in den Spiegel: Der Mann, der ihm daraus entgegenlächelte, gefiel ihm. Der Schnurrbart war sein neuester Einfall gewesen. Er hatte lange darüber nachgedacht, denn er wollte nicht wirken wie jemand, der eine exzessive Körperpflege betrieb – solche Leute waren meist Faulenzer, hatte er gedacht. Dann aber, als seine Koteletten nach und nach ergrauten, war er zu der Überzeugung gelangt, dass ein Schnurrbart ein hübsches Pendant dazu abgeben und ihm mehr Autorität verleihen würde, woraufhin er diesen wie eine Rosenplantage gehegt und gepflegt hatte. Das Ergebnis war, wie er zugeben musste, zufriedenstellend.
Ricciardi, Ricciardi. Ein Kreuz und ein Segen. Nicht zu führen, unabhängig, undiszipliniert – aber auch ein Garant für Erfolg. Zudem besaß er den unvergleichlichen Vorteil, nicht im Mindesten an einer Karriere interessiert zu sein. Das hieß, er hatte es nicht auf seinen Posten abgesehen, wie er selbst hingegen auf den des Präsidenten. Und Garzo konnte sich gegenüber seinen Vorgesetzten, insbesondere im Ministerium von Rom, mit den Erfolgen des Kommissars schmücken.
Hin und wieder hatten sie natürlich schon in der Klemme gesessen, zum Beispiel, als der Lieblingstenor des Duce ermordet worden war. Und obwohl bereits ein umfassendes Geständnis vorlag, hatte Ricciardi unbedingt weitersuchen wollen, bis er herausfand, dass der Sänger durchaus kein Engel gewesen war. Vezzi hieß er. Und seine Frau, eine Freundin der Tochter des Duce, war daraufhin nach Neapel gezogen. Garzo hatte den Verdacht, dass sie sich in Ricciardi vernarrt hatte, wusste der Himmel warum.
Nun, der Kommissar mit den beunruhigend grünen Augen war ein Ross, das es zu bändigen galt. Und er, Garzo, war genau der Richtige für diese
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