Die Gabe des Commissario Ricciardi
reden. Du kannst dir's ja vorstellen, ich kenne seine Akte auswendig, so oft hab' ich mir sie angesehen. Die ganze Litanei hat er mir aufgesagt, Diebstahl für Diebstahl, Raub für Raub und die Morde, eins, zwei, drei. Sogar einen, für den ihm nicht mal der Prozess gemacht worden war.
Maione hing buchstäblich an seinen Lippen.
– Und zu Luca, was hat er dir da gesagt? Hat er erzählt, wie's passiert ist? Wenn er was gesagt hat, wenn …
– Warte. Lass mich weitererzählen. Irgendwann hat er aufgehört und nichts mehr gesagt. Ich dachte, er sei gestorben, endlich. Aber er atmete noch, also hab' ich ihn gefragt: Und Luca Maione? Er hat nicht gleich geantwortet. Schließlich hat er mich gefragt: Woher wissen Sie von dem Polizisten?
Maione wartete mit angehaltenem Atem.
– Ich hab' zu ihm gesagt: Du stehst vor Gottes Pforte und Gott weiß alles. Wenn du jetzt lügst, wirst du keine Vergebung erlangen. Er hat geschwiegen und dann, so leise, dass ich mich vorbeugen musste, um ihn zu verstehen, gesagt: Den Polizisten hab' nicht ich umgebracht.
Die Leute um sie herum unterhielten sich, draußen erklangen Weihnachtslieder und das Geräusch des Windes, der unablässig durch die Gassen brauste. Doch Maione schien es, als habe sich eine schwere Stille auf sie herabgesenkt, wie die Stille in einer Kirche an einem Sommernachmittag.
– Was heißt das? Was soll das heißen, Franco? Wie kann das sein, dass nicht er ihn umgebracht hat? Wer hat ihn dann ermordet, meinen Luca? Er hat gelogen, der Mistkerl. Sogar kurz vorm Tod hat er noch gelogen!
Massa hatte noch ein Glas Wein getrunken. Seine blutunterlaufenen Augen und die roten Flecken im Gesicht wirkten, als habe er starkes Fieber.
– Das hab' ich auch gedacht. Aber dann hab' ich mir gesagt: Warum sollte er? Er hat die anderen Morde gebeichtet, sogar einen, für den er nicht verurteilt worden war, und ihm ist klar, dass er stirbt. Was für einen Sinn hat es da zu lügen? Er wird kaum glauben, den Allmächtigen reinlegen zu können.
– Und?
– Also hab' ich gedacht: Mit diesem Zweifel kann ich nicht leben. Ich hab' zu ihm gesagt: Mein Sohn, ich kann dir nicht glauben, wenn du mir nicht sagst, was wirklich passiert ist. Und wenn ich dir nicht glauben kann, kann ich dir auch keine Absolution erteilen. So leid es mir tut, aber du kommst für deine Sünden in die Hölle.
– Und er? Wie hat er darauf reagiert?
– Er hat mir geglaubt und mir alles erzählt. An dem Tag hatte er außer seinen üblichen Kumpanen auch seinen kleinen Bruder, Biagio, mitgenommen. Der Junge hatte noch nie was angestellt, aus Respekt vor der Mutter hatte man ihn aus allem rausgehalten, aber der Kleine gab keine Ruhe. Die Bande hat sich sicher gefühlt, und der ältere Bruder hat's schließlich zugelassen. Aber Luca hat sie aufgespürt, er hatte sie beschattet; er war richtig gut, das hatte er von dir.
Maione nickte abwesend. Er erinnerte sich an die vielen Stunden, die er damit verbracht hatte, seinem Sohn die richtige Technik beizubringen.
– Luca hat gewusst, wie viele es waren, und hat sie reingehen sehen. Er hat genau mitgezählt. Der Junge hatte wirklich was drauf! Als er sicher war, dass alle drin waren, ist er in den Keller eingefallen und hat sie mit der Pistole in Schach gehalten; niemand hätte ihm so dumm kommen können. Er hatte nicht mit dem Jungen gerechnet, der Zigaretten holen war. Als
er runterkam, hat er Luca gesehen, der ihm den Rücken zuwandte und die ganze Bande unter Beschuss hielt. Er ist in Panik geraten, und anstatt wegzurennen, hat er das Messer genommen, das sein Bruder ihm gegeben hatte, und … und hat getan, was er nicht hätte tun dürfen.
Maione streckte die Hand über den Tisch und packte Massas Arm.
– Das heißt, es war der Junge? Sein kleiner Bruder?
– Ja, er war's. Der ältere hat die restlichen Polizisten kommen hören und sehr schnell überlegt. Er hat sich das Messer geschnappt, seinem Bruder gesagt, sofort zu verschwinden, ohne zu rennen – es kannte ihn ja niemand –, und den Mord gestanden. Er hatte nichts zu verlieren, denn verurteilt hätte man ihn sowieso, er wurde ja wegen anderer Delikte und anderer Morde gesucht.
Es folgte ein langes Schweigen. Maione musste völlig neue Gedanken zu etwas sehr Wichtigem ordnen, das er erst vor Kurzem halbwegs erfolgreich verdrängt hatte.
– Das bedeutet ja, dass der wahre Schuldige, der Mörder meines Sohnes, unseres Sohnes, frei ist. Und seit drei Jahren gemütlich durch die Gegend spaziert
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