Die Gabe des Commissario Ricciardi
und der Doktor waren die Einzigen, für die der Sonntag ein Tag wie jeder andere war, für ihn selbst galt übrigens das Gleiche.
Wie er es sah, zeigte sich die Persönlichkeit des verstorbenen Zenturio Garofalo allmählich in ihrer ganzen Ambivalenz. Zu dem Bild des mustergültigen und untadeligen Funktionärs, der die Geschenke der Fischer ablehnte und seinen Nachbarn ein vollkommen ungetrübtes Familienleben zeigte, gesellte sich das eines skrupellosen Karrieristen, der ohne zu zögern das Leben seines Vorgesetzten ruiniert hatte, um dessen Platz einzunehmen.
Nicht, dass so etwas in einer Zeit, in der Denunziationen belohnt wurden, zum ersten Mal vorgekommen wäre. Auch im Präsidium lief es nicht anders, soviel Ricciardi trotz seines Desinteresses mitbekam. Doch es war eine Sache, einen Mitstreiter zu überflügeln, indem man Beziehungen oder Empfehlungen spielen ließ, eine ganz andere aber, diesen für anderthalb Jahre in den Knast zu schicken und seine Frau in den Selbstmord zu treiben.
Auf seinem Weg durch die von Marktbesuchern wimmelnde Via Toledo zur Kirche von San Ferdinando rief Ricciardi sich die Krippe der Garofalos ins Gedächtnis: Vor seinem geistigen Auge sah er die Figur des heiligen Josef, zerbrochen und ungeschickt unter dem Tuch verborgen, und die der Madonna, die auf den Esel gekippt war. Indem man den Mann gepackt hatte, hatte man die Frau zu Fall gebracht. Das war zu symbolträchtig, um ein Zufall zu sein. Wie durch ein Wunder wich der Kommissar einer Mietdroschke aus, die ein vorwurfsvolles Hupen vernehmen ließ, und erinnerte sich an Garofalos letzten Gedanken: Ich muss gar nichts und schulde niemandem etwas. Was hatten die Mörder gefordert, das der Zenturio ihnen verweigerte? Ihr Besuch in der Kaserne hatte die Auswahl an Möglichkeiten eher vergrößert als eingegrenzt: Es konnte um Geld gehen, um Besitz, aber auch um verlorene Jahre.
Er musste auf Neuigkeiten von Maione warten, um zu erfahren, wo sich dieser Lomunno aufhielt, der sicher allen Grund hatte, das Opfer zu hassen. Natürlich nur, wenn es dem Brigadiere gelingen würde, seinen allwissenden Informanten an diesem Sonn- und Feiertag aufzuspüren.
Seine Gedanken schweiften zu Maione und dessen wiedergefundenem häuslichen Glück. Ricciardi, der ihm in den letzten Jahren in seinem Schmerz zur Seite gestanden hatte, war sehr froh darüber. Er wusste, wie wichtig dem Brigadiere seine Familie war, und hatte zufrieden bemerkt, wie nach und nach das Lächeln in sein breites Gesicht zurückkehrte.
Die Familie, die Liebe. Enrica. Ein Gedanke ergab den anderen, während er sich seinen Weg durch die Menge bahnte. Inzwischen hatte er fast die Piazza Trieste e Trento erreicht. Er wusste von dem Hutgeschäft ihres Vaters und erinnerte sich,
Enrica genau in jener Gegend in einen Laden hineingehen gesehen zu haben. Vielleicht war es der mit dem halb herabgelassenen Rollgitter? Hut und Handschuhe?, hatte Signora Garofalos Leiche gefragt und mit gesenktem Blick gelächelt, während dunkles Blut ihr aus der klaffenden Wunde am Hals floss. Möglicherweise waren der oder die Mörder, an die die Frage gerichtet war, Kunden von Enricas Vater und von der Frau bedient worden, die er liebte. Es gibt kein Schicksal, dachte Ricciardi. Andernfalls würde es sich über so etwas prächtig amüsieren.
Er war nun bei der Kirche angelangt, die die Gläubigen nach der Zehn-Uhr-Messe gerade verließen. Er wartete, bis die Menge sich gelichtet hatte, und ging schließlich hinein, in Gedanken immer noch bei Enrica und bei dem Schicksal, das nicht existierte.
Enrica dachte ebenso an das Schicksal – und an Ricciardi.
Genauer gesagt überlegte sie, wie schrecklich es war, monatelang auf eine Annäherung zu warten und ihn ausgerechnet dann, als alles sich zum Guten zu wenden schien, zu verlieren. Das Schicksal konnte grausam sein.
Sie erinnerte sich zum wiederholten Mal an ihr Glück beim Erhalt des Briefes von dem Mann, auf den sie ein Leben lang gewartet und in den sie sich aus der Ferne verliebt hatte, an den Kontakt zu seiner Kinderfrau, einer herben und freundlichen Dame, die bei ihm lebte und sie sogar zu sich nach Hause eingeladen hatte. Sie erinnerte sich an die Zimmer, die Sauberkeit der Wohnung, einen fremdartigen Duft, der vielleicht von seinem Rasierwasser stammen konnte, an die angelehnte Tür seines Zimmers, von dessen Fenster aus er ihr jeden Abend zuschaute, als wären sie verabredet.
Und dann, als der nächste Schritt nur noch ein Treffen
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