Die Gabe des Commissario Ricciardi
bekommen würde, als sein Puls plötzlich kurz aussetzte.
Zunächst glaubte er, sich geirrt zu haben. Wahrscheinlich hatte er sich versehen, da es so windig war und seine Augen halb geschlossen, oder die Lichtverhältnisse hatten ihm einen
Streich gespielt. Als der Mann, der an der Ecke zum Vicolo della Tofa auf ihn wartete, jedoch seinen Zigarettenstummel wegwarf und austrat, sobald er ihn näher kommen sah, gab es keinen Zweifel mehr.
Franco Massa und Raffaele Maione waren schon als Kinder unzertrennlich gewesen. Tausend Streiche ausheckend, trieben sie ihr Unwesen rund um die Piazzetta Concordia, trotzdem mochten die Kaufleute der Gegend die sympathischen Jungs: der eine spindeldürr mit einer Riesennase im hageren Gesicht, der andere dick und stets bereit, in ein geräuschvolles Lachen auszubrechen, das klang, als scheppere ein Wagen voller Töpfe eine Treppe runter. Man musste sie einfach gern haben, die beiden, auch wenn sie es sehr bunt trieben.
Unzertrennlich waren sie auch dann noch, als sie nicht mehr barfuß dem Pazzariello nachliefen oder sich an die Trolleybusse hängten, um auf einer waghalsigen Fahrt zum Meer an der Via Caracciolo zu gelangen und sich dort von den Felsen ins Wasser zu stürzen. Als Heranwachsende warteten sie vor der Schule der Piazza Dante gemeinsam auf die herauskommenden Mädchen. Als junge Männer teilten sie sich die Eintrittskarten zum Salone Margherita, wo junge Tänzerinnen ihre Röcke hochhoben; einer lenkte den Platzanweiser am Eingang ab und der andere schleuste sich zwischen den Beinen all der Söhne aus reichem Hause durch.
Es war eine jener überbordenden Freundschaften, die auch das restliche Leben einnehmen, bei denen einer die Eigenheiten des anderen unwillkürlich übernimmt und man vergisst, wer nun eigentlich wem gleicht.
Als Lucia in Raffaeles Leben trat, jener blonde Engel, der
die Mutter von Maiones sechs Kindern werden sollte, verlor er Franco nicht aus den Augen, wie es so oft geschieht. Er wurde einfach Onkel Franco und die Kinder schlossen ihn ins Herz wie einen zweiten Vater. Allen voran Luca, dessen Pate er selbstverständlich war. Massa hatte immer noch das Foto vom Tag der Taufe auf dem Nachttisch stehen: Er selbst stocksteif und unbeholfen mit dem kleinen Bündel im Arm, Raffaele und Lucia gerührt und lächelnd links und rechts von ihm.
Als Patenonkel war er gewissenhaft und aufmerksam gewesen. Er hatte Luca Schritt für Schritt begleitet, seinen Umgang und seine Freundschaften mit strengem Auge überwacht. Oft bat der Junge sogar seinen Vater, bei Onkel Franco für ihn ein gutes Wort einzulegen, damit er ihm erlaube, abends länger auszugehen oder mal die Schule zu schwänzen.
Beide Freunde hatten sich für die Uniform entschieden, Maione bei der Polizei und Massa als Gefängniswärter. Es war nur natürlich, dass Luca sich ebenso entschied. Tragisch und natürlich.
Lucas Tod war schrecklich für Raffaele gewesen, aber nicht weniger für Franco. Er hatte keine eigene Familie, keine besondere Zuneigung. Sein Wunsch nach Kindern wurde von dem lauten, blonden, wunderschönen Jungen befriedigt, mit Augen so blau wie das Meer und dem gackernden Lachen des Vaters. Sein Tod hatte etwas in Massa zerbrochen, ein Feuer zum Erlöschen gebracht, das nie wieder brennen würde.
Nach einer Weile war es für die beiden alten Freunde schmerzhaft geworden, sich zu treffen. Jedes Mal, wenn sie sich sahen, herrschte zuerst Schweigen, dann fing Franco unweigerlich an zu weinen. Er weinte stumm, ohne seinen Gesichtsausdruck zu verändern; große Tränen rannen ihm dabei übers Gesicht wie bei einem plötzlichen Regenguss.
Mit der Zeit verabredeten sie sich nicht mehr. Begegneten sie sich einmal zufällig, nickten sie sich von Weitem zu, aber das geschah selten. Massa bewegte sich ohnehin kaum noch von Poggioreale weg, wo er mittlerweile eine leitende Funktion im Sicherheitsdienst des Gefängnisses innehatte, und wenn Maione an ihn dachte, spürte er jenen feinen Schmerz, der sich einstellt, wenn man zulässt, dass ein wichtiges Gefühl aus Nachlässigkeit verkümmert.
Als er den Freund nun an der Straßenecke stehen sah, die er täglich auf seinem Nachhauseweg passierte, kamen bei Maione in einer ungeheuren Gemütsbewegung gleichzeitig Freude und Gewissensbisse auf: Er freute sich auf ein frohes Weihnachtsfest, bei dem sein Sohn und sein bester Freund fehlten.
Er umarmte ihn herzlich wie in alten Zeiten; Franco ließ sich von ihm drücken und knuffte ihm die
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