Die Gabe des Commissario Ricciardi
bisschen wie Weihnachten, weil die Bürgersteige an jeder Promenade und den angrenzenden Sträßchen überhäuft sind mit Waren auf alten Leintüchern und jeder alles verkauft, ob legal oder nicht. Weil die potentiellen Kunden gezwungen sind, auf die Straße auszuweichen, und von Autos und Kutschen angehupt und mit Schlamm bespritzt werden. Weil die Gemüse- und Wurstverkäufer sehr kunstvoll große Bögen aus bunter Ware gefertigt haben: Um sie abzubauen, bräuchten sie Stunden, weshalb sie schon seit Tagen nicht mehr schließen und die Nächte mit den Kollegen schwatzend ver
bringen, eingewickelt in dicke Decken und mit einem Kohlenbecken vor den Füßen. Weil in der Via Santa Brigida in großen meerblauen Wannen flink die Aale züngeln, von denen ab und zu einer auf die Straße entwischt und vom Fischer zwischen den Beinen aufgeregt flüchtender Frauen wieder eingefangen wird.
Aber es ist noch nicht Weihnachten.
Enrica hatte beschlossen, ihrem Vater an diesem Morgen Gesellschaft zu leisten.
Giulio Colombo wollte den Sonntag nämlich dazu nutzen, sich auf die anstrengende Vorweihnachtswoche vorzubereiten, und war deshalb auf einen Sprung in den Laden gegangen, um nachzusehen, ob die Handschuhe, Hüte und Stöcke im Lager ausreichten, um die erhoffte Nachfrage nach Geschenken zu befriedigen. Aus dreißig Jahren Geschäftserfahrung wusste er, dass viele Leute, wenn ihnen in letzter Minute die Ideen fehlten, auf diese Art von Geschenken zurückgriffen. Daher war es ratsam, sich mit Waren einzudecken, insbesondere in den günstigen Preisklassen. Die Krise war überall zu spüren, was auch immer die Zeitungen darüber schreiben mochten.
Aus diesem Grund befanden sich Vater und Tochter nun in dem geschlossenen Laden – das Rollgitter war zur Hälfte herabgelassen – und machten sich gemeinsam ans Werk: Giulio zählte die Stücke und Enrica hakte auf einer Liste die entsprechenden Artikelnummern ab. Der wahre Grund, wie beide nur zu gut wussten, ohne darüber gesprochen zu haben, war ein anderer: Sie wollten Maria, Enricas Mutter, entgehen, die nicht müde wurde, sie Tag für Tag mit demselben Thema zu behelligen.
Giulio wusste, dass Enrica ihre Eigenarten hatte. Sie war nämlich genau wie er: sanft, freundlich, nie überschwänglich, nie laut, nicht jähzornig, dafür aber dickköpfig, entschlossen, fast krankhaft ordentlich und mit klaren, genauen Vorstellungen, die sich auch in ihren präzisen Bewegungen widerspiegelten. Obwohl sie schon fünfundzwanzig war, war sie nicht verlobt. Kein Mann lud sie je ein oder hatte den Vater um Erlaubnis gebeten, mit ihr ausgehen zu dürfen.
Nicht dass sie auf ihre Art nicht hübsch gewesen wäre, dachte Giulio und betrachtete sie aus den Augenwinkeln, doch sie entmutigte potentielle Verehrer stets mit einem höflichen Nein danke . Das wiederum trieb ihre Mutter in den Wahnsinn, denn sie war der Ansicht, dass eine Frau in diesem Alter bereits seit langem Haus und Familie und vor allem einen Mann haben sollte. Ihre Auffassung tat sie durchschnittlich zehn Mal am Tag in der ganzen Bandbreite der Tonlagen kund, von flehend bis befehlend.
Enrica zog sich in sich zurück. Sie antwortete der Mutter nur einsilbig, während sie weiter die Hausarbeit erledigte oder sich auf die Nachhilfestunden vorbereitete, die sie Kindern zu Hause erteilte.
Giulio verließ sich auf seine Tochter. Wenn sie warten wollte, sollte sie es tun. Wenn sie ihr Leben lang bei ihm bleiben wollte, würde er glücklich darüber sein. Die jüngere Schwester, die mit einem seiner Angestellten verheiratet war, einem enthusiastischen Faschisten, hatte bereits ein Kind, und war sie nicht im Grunde auch noch zu Hause? Was würde sich schon ändern? Es waren harte Zeiten, der Krieg war noch nicht lange vorbei, und die Haltung der Regierung war sehr militärisch, was dem liberalen und gebildeten Giulio keineswegs entging.
Er fühlte sich ruhiger, wenn seine Tochter unter seinem Dach lebte, anstatt sie in der Hand irgendeines Fanatikers zu wissen, wie sie zu Dutzenden herumliefen.
– Herrenhut aus dunkelgrauem Filz mit schwarzem Seidenband, – sagte er zu seiner Tochter, als ob seine Worte gelautet hätten: Ich hab' dich lieb.
– Artikel 15-26, ein Stück, – antwortete Enrica und machte ihr Häkchen. Als ob sie damit sagen wollte: Ich dich auch.
Ricciardi hatte sich alles genau ausgerechnet: Wenn er den Sonntag seinen Gesprächen mit Don Pierino und Doktor Modo widmete, würde er Zeit gewinnen. Der Priester
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