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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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breiten Schultern – so hatten sie sich schon als Kinder begrüßt. Schließlich schob er den Freund jedoch von sich weg und sah ihm fest in die Augen. Mein Gott, was ist er gealtert, dachte Maione. Franco sah ihn lange an. Dann sagte er:
    – Ich muss mit dir reden, Raffaele. Es ist wichtig. Eine halbe Stunde wird's schon dauern.
    Maione war glücklich und verwirrt.
    – Klar, Franco. Wann wollen wir uns sehen? Komm doch zu uns, Lucia und die Kinder würden sich bestimmt freuen. Ich wollte mich ohnehin wegen Weihnachten bei dir melden, kommst du an Heiligabend? Lucia macht Muscheln, du weißt doch, sie ist eine tolle Köchin.
    Massa schien in Gedanken woanders zu sein.
    – Weihnachten … Ja, stimmt. Nein, ich muss sofort mit dir reden. Gehen wir in das Wirtshaus da drüben, ich geb' dir
ein Glas Wein aus. Nur eine halbe Stunde, länger brauche ich nicht.
    Er steuerte auf die Taverne zu, ohne eine Antwort abzuwarten.

XIX
    Rosa Vaglio beobachtete vom Küchenfenster aus die Straße. Es blies ein kalter Wind und ihre Knochen schmerzten, doch sie fürchtete weder den einen noch die anderen, schließlich kam sie vom Land, aus den Bergen des Cilento. Dort war die Natur wild und verräterisch. Auch an Sonnentagen konnte es urplötzlich schneien, die Wolken versteckten sich dann hinter den Gipfeln und traten erst in Erscheinung, wenn es schon zu spät war.
    Einmal hatte sie einen Wolf gesehen.
    In der Hoffnung, seine stets blasse Frau würde vielleicht ein wenig Farbe bekommen, hatte der Baron von Malomonte, Luigi Alfredos Vater, die Familie zu seinem Gutshof in Sanza zu Füßen des Monte Cervati gebracht. Die stille und freundliche Baronin mit den grünen Augen hatte Rosa gebeten, sie auf einem Spaziergang zu begleiten. Sie wurden von einem kalten, schneidenden Regen überrascht. Schnell hatten sie Unterschlupf in einem Verschlag gesucht, in dem Holz gelagert wurde, und als es endlich aufgehört hatte zu regnen und sie wieder herauskamen, stand unmittelbar vor ihnen dieses wunderschöne Tier: Sein Fell war fast schwarz, seine Augen gelb und es selbst so groß wie die Fohlen, die der Baron als Rennpferde züchtete.
    Sofort hatte Rosa die Baronin zurück in den Verschlag geschoben und sich dem Wolf gestellt, dem sie fest in die Augen
sah. Sie hatte darin nichts Wildes entdeckt, stattdessen Intelligenz, Neugier, eine sehr große Einsamkeit. Der Wolf hatte sich umgedreht und war stumm auf den Gipfel zugelaufen.
    Merkwürdig, dass er ihr gerade jetzt eingefallen war, nach so langer Zeit und so weit von den Bergen entfernt, während sie in der immer noch fremden Stadt auf die Straße hinunterschaute und auf die Heimkehr des jungen Herrn wartete, der wie üblich zu spät zum Abendessen kam. Vielleicht hatte sie im Blick des Tieres und des Kommissars dieselbe Krankheit erkannt.
    Als man ihr Luigi Alfredo vor über dreißig Jahren in den Arm gelegt hatte, verwandelte sich ihre Arbeit in Liebe. Sie ersetzte ihm die Mutter, die die arme Baronin, von Natur aus schwach und krank und leider sehr früh verstorben, nicht sein konnte, doch sie hatte ihn nie richtig verstanden. Seit er aus dem Krankenhaus gekommen war, erschien er ihr noch viel einsamer. Es war nur ein Gefühl, aber sie wusste, dass sie sich nicht irrte.
    Schlicht und ungebildet, wie sie war, begriff sie, dass ihren Jungen irgendetwas zutiefst quälte und peinigte – wenn sie bloß wüsste, was.
    Sie vermutete, dass das Fräulein Colombo, die älteste Tochter des Huthändlers von gegenüber, etwas damit zu tun hatte. Rosa hatte sie angesprochen und mit ihr geredet, sie sogar zu sich ins Haus gebeten, als er nicht da war. Sie hatte gehofft, die junge Frau könne Luigi Alfredo von seiner Einsamkeit heilen, doch dann war sie am Tag des Unfalls plötzlich verschwunden und an ihrer Stelle tauchte jene merkwürdige Fremde auf, eine verwitwete Frau, die Rosa zu provokant, zu schön, zu unverfroren und überhaupt in allen Belangen zu übertrieben fand.
    Nein, diese Livia gefiel ihr nicht. Sie schien ihr für ihren Jungen ungeeignet. Kaufe deines Nachbarn Rind und freie deines Nachbarn Kind, hieß es schließlich. Und wenn schon kein Mädchen aus dem Cilento zur Auswahl stand, was noch besser gewesen wäre, dann wenigstens ein nettes Fräulein aus dem Süden, tüchtig und zuverlässig, wie Enrica ihr vorgekommen war. Ganz sicher keine Frau, die rauchte und mit den Hüften wackelte, dass alle ihr hinterherschauten.
    Rosa kniff die Augen im Wind zusammen. Von Weitem sah sie

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