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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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Selbstverständlich. Die Krippe gehört zu unseren ältesten und gefestigtsten Traditionen. Durch sie sind im Laufe der Stadtgeschichte Situationen und Personen dargestellt worden, die Teil des Volksglaubens geworden waren. Schauen Sie, jede Krippe, auch die einfachste, besteht aus drei Ebenen: Oben ist das Schloss von Herodes, es steht für die Macht und den Machtmissbrauch; in der Mitte befindet sich die Landschaft mit der Schafherde, den Hirten und dem Rest; unten, ganz vorne, die Grotte mit Maria, Josef und dem Jesuskind. In die Landschaft hineingesetzt sehen Sie die Tempelruinen, die den Triumph der Christenheit über die heidnischen Götter symbolisieren, die Taverne, die für die menschliche Veranlagung zum Laster steht, und so weiter. Jeder Bestandteil der Krippe hat eine Bedeutung, die wichtigen haben sogar mehrere.
    Ricciardi hörte aufmerksam zu.
    – Alles hat eine oder mehrere Bedeutungen, sagen Sie. Können Sie mir ein Beispiel nennen?
    Der Pfarrer nickte freudig. Er war glücklich, über sein Fachgebiet reden zu können.
    – Natürlich. Beginnen wir bei den Orten und den architektonischen Elementen. Über den Tempel und die Taverne habe ich ja schon gesprochen. Zur Taverne vielleicht noch Folgendes: Das Festmahl, das Sie darin im Gange sehen, verweist darauf, dass die Gasthäuser und Herbergen die Heilige Familie abgewiesen haben, als diese eine Unterkunft suchte. Die Taverne steht also für die menschliche Bosheit und den Egoismus, den die Ankunft Christi ins Licht rücken wird. Der Ofen, den Sie dort sehen, fehlt nie: Er stellt nicht nur eines der ältesten Gewerbe dar, sondern weist auch auf das Brot hin, das gemeinsam mit dem Wein zu den Grundlagen unseres Glaubens gehört. Die Brücke über den Fluss, die Sie im Hintergrund sehen, bezieht sich auf eine alte Legende: Diese besagt, dass in ihren Fundamenten drei Kinder begraben sind, die eigens getötet wurden, um die Bögen durch einen Zauber zu stabilisieren. Gemeint ist die Verbindung zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten. Auch der Brunnen steht für einen direkten Zusammenhang der Erde mit der Unterwelt. Wie Sie sehen, sind auch das Dunkle und das Böse in der Krippe vertreten. Wie im echten Leben, nicht wahr?
    Ricciardi dachte nach. Eine Brücke, die die Welt der Lebenden mit der Welt der Toten verband. Wäre er selbst ein Hirte der Krippe gewesen, hätten sie ihn genau auf diese Brücke stellen können.
    Von diesen Überlegungen einmal abgesehen erschien ihm die Symbolik der Krippe jedenfalls ziemlich verzwickt. Es wür
de nicht leicht sein zu begreifen, was der Mörder zum Ausdruck bringen wollte, als er die Figur des heiligen Josef zerbrach, vorausgesetzt natürlich, dass er damit überhaupt etwas ausdrücken wollte.
    – Und die Personen? Haben sie auch eine Bedeutung?
    Don Pierino nickte.
    – Aber sicher, Commissario. Sehen Sie den Markt im Hintergrund? Jede Figur stellt einen Monat dar, der Metzger den Januar, der Ricotta-Verkäufer den Februar und so weiter bis zum Dezember, der vom Fischverkäufer symbolisiert wird. Das wären schon mal zwölf. Die Zigeunerin mit dem Korb voll Eisenwaren sagt die Zukunft voraus und symbolisiert das Schicksal Jesu, der am Kreuz gestorben ist. Der schlafende Mann dort bei der Herde zum Beispiel … hier wird's nun lustig … soll bedeuten, dass die Ankunft Christi die Menschen aus dem Schlaf der Unkenntnis des wahren Glaubens geweckt hat, er stellt also die Dummen dar und hieß im Volksmund immer Benito. Tja, so nennt ihn jetzt natürlich – aus naheliegenden Gründen – niemand mehr. Er heißt neuerdings »der schlafende Hirte«. Aber alle wissen, was sein eigentlicher Name ist, und lachen hinter vorgehaltener Hand darüber.
    Ricciardi wollte etwas anderes wissen.
    – Und die Heilige Familie? Hat auch sie eine Symbolik, eine Bedeutung?
    Don Pierino breitete die Arme aus:
    – Gewiss, Commissario. Bitte entschuldigen Sie, dass ich so viel plappere, ich könnte stundenlang von der Krippe erzählen. Die Familie, natürlich: Das Jesuskind: Kindheit, Weisheit, Reinheit und Unschuld. Die Madonna: Mutterschaft, Fürsprache, Keuschheit. Der heilige Josef …
    Ricciardi betonte sein Interesse:
    – Ja?
    – Josef stellt verschiedene Dinge dar. Er ist der Menschlichste der drei, da er weder eine jungfräuliche Mutter noch Gottes Sohn ist. Er ist Mensch, Sie sehen es ja, er ist wie ein Hirte gekleidet. Aber er ist auch Jesus vermeintlicher Vater und ein Zimmermann. Für die Christenheit stellt er

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