Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
Vom Netzwerk:
soziale Unterschiede daran festgemacht wurden, ob man zumindest einmal täglich etwas zu essen hatte, galt er fast schon als privilegiert. Weil er Leuten in ernsten Schwierigkeiten bereitwillig half, zogen ihn am Ende alle ins Vertrauen; wie eine Spinne saß er also inmitten des gigantischen Netzes aus Klatsch und Tratsch, das sich um die ganze Stadt spannte.
    Niemand wusste, wie er richtig hieß, weil er ohne Familie auf der Straße aufgewachsen war und mal hier, mal dort geschlafen und gegessen hatte; seinen Namen verdankte er einem bekannten Volkslied.
    Sonntagmorgens um sieben war nicht viel los draußen. Die kleinen Straßen und Gassen des Viertels, sonst verstopft von Leuten und Waren, lagen grau und still da und wurden nur vom Wind und ein paar Sonnenstrahlen gestreift, die ab und zu kurz durch die dicke schwarze Wolkendecke am Himmel blitzten. Bambinellas Absätze kündigten seine Ankunft schon von Weitem an. Unter tief herabgezogenen Mützenschirmen und den Kragen von Wintermänteln, die schon so oft gewendet worden waren, dass der Stoff dünn wie Hemdstoff war, zeichnete sich hier und da ein Lächeln ab. So kreuzten sich von weitem Blicke und wurden Grüße getauscht wie in einem kleinen Dorf, bevor die Stadt beginnen würde, sich hektisch und sinnlos im Kreis zu drehen.
    Als er den letzten Absatz der dunklen, kalten Treppe bei sich zu Hause nahm, eingehüllt in seinen langen Mantel, unter dem die schwarzen Strümpfe und hohen Schuhe herausschauten, erwartete Bambinella ein überraschender Anblick: Auf der
letzten Stufe, direkt vor seiner Haustür und das Gesicht auf beide Hände gestützt, saß Brigadiere Maione.
    – Ach, herrje, Brigadiere, na Sie haben mich vielleicht erschreckt! Ich dachte schon, es ist irgendein Übeltäter. Was machen Sie denn hier, am frühen Morgen und bei der Kälte, Sie holen sich ja den Tod! Na los, stehen Sie schon auf und kommen Sie mit rein.
    Maione war unrasiert und trug deutliche Spuren einer schlaflosen Nacht.
    – Na endlich bist du da, Bambinella. Darf man erfahren, wo du dich so früh am Sonntagmorgen rumtreibst?
    Die beiden verband ein eigentümliches Vertrauensverhältnis. Vor Jahren war Bambinella einmal festgenommen worden, zusammen mit einer Gruppe von Prostituierten, die um das San Carlo herum auf Kundenfang gingen: Ihre Jugend und Schönheit standen in deutlichem Kontrast zum Aussehen der anderen – die meisten zu alt, um in einem der zahlreichen genehmigten Bordelle einen warmen, sicheren Platz zu finden. Als klar war, warum auch Bambinella diese Art von Asyl nicht bekommen würde, hatte Maione, einem unerklärlichen Impuls folgend, ihn freigelassen. Vielleicht folgte er dabei nur seinem Gespür für Symmetrie, denn das seltsame Wesen mit den langen Beinen, dem kantigen Gesicht und den breiten Schultern war keiner der übrigen festgenommenen Nutten ähnlich.
    Sie hatten eine sonderbare Freundschaft geschlossen: Maione merkte schon bald, wie viele wertvolle Informationen Bambinella ihm zusichern konnte, und der Transvestit hatte den brummigen, doch gutmütigen Polizisten ins Herz geschlossen.
    Jedes Mal, wenn die Ermittlungen zu einer Straftat an einen toten Punkt gelangten oder irgendeine Angabe zu überprüfen
war, kletterte Maione also unter Stöhnen und Ächzen zu der kleinen Dachwohnung hinauf, in der Bambinella seinen Beruf ausübte. Dort, hinter dem Vicolo di San Nicola da Tolentino, befand sich sozusagen das Zentrum des Spinnennetzes.
    – Nein, wie romantisch! Ein Verehrer auf der Türschwelle seiner Liebsten, und das frühmorgens am Sonntag vor Weihnachten. Man kommt nichtsahnend aus der Kirche und wer hockt da schon? Ein wunderschöner wartender Mann. Nicht mal im Kino gibt's solche Geschichten!
    Maione rieb sich die Augen. Er versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen.
    – So 'ne Geschichte wird's auch diesmal nicht geben. Hör mal, Bambinella, erspar' mir das Geschwätz, ich hab' furchtbares Kopfweh und mir platzt gleich der Schädel. Heut' Nacht hab' ich kein Auge zugetan. Meiner Frau hab' ich gesagt, dass ich was Wichtiges für die Arbeit erledigen muss, und bin weg, bevor sie's merkt und mich mit Fragen bombardiert.
    Bambinella legte seine Hände mit den langen lackierten Fingernägeln vor dem Mund zusammen; die Gebärde hätte weiblicher nicht sein können.
    – Oh là, là, dann muss es ja was Ernstes sein! Besser, ich mach Ihnen gleich einen Malzkaffee, der wird guttun gegen das Kopfweh. Haben Sie schon gefrühstückt? Ich hab' Zuckerkringel

Weitere Kostenlose Bücher