Die Gabe des Commissario Ricciardi
sein konnte, ein Lächeln und ein Spaziergang Hand in Hand, passierte der Unfall. Während sie auf der Liste die Artikel abhakte, die ihr Vater ihr diktierte, fand sie sich in Gedanken im Wartesaal des Krankenhauses wieder: Es war November und der Regen peitschte gegen die Scheiben.
Sie hatte geglaubt, er würde sterben. Außerdem hatte sie diese wunderschöne Frau mit dem fremden Akzent rauchend und weinend auf und ab laufen sehen, nicht weniger verzweifelt als sie selbst. Sie hatte sich fehl am Platz gefühlt. Da hatte sie die Madonna von Pompeji um sein Leben gebeten und sich im Gegenzug dazu verpflichtet, ihn nie mehr wiederzusehen. Kurz darauf war der Doktor lächelnd herausgekommen; es hatte sogar aufgehört zu regnen.
Enrica war nie sehr gläubig gewesen, doch dies schien ihr ein unmissverständliches Zeichen zu sein. Sie war aufgestanden und geflohen, während die Signora, die Kinderfrau und der dicke Brigadiere zu Ricciardi ins Zimmer stürzten, um ihn zu sehen. Im Weggehen hatte sie sowohl Freude als auch Verzweiflung empfunden; das erste Gefühl war kurz danach verschwunden, das zweite begleitete sie noch immer.
Enrica hatte sich nie sonderlich um ihre Zukunft gesorgt. Sie hatte immer geglaubt, dass, falls es jemanden gab, den das Schicksal für sie bestimmt hatte, er früher oder später in ihrem Leben auftauchen und sie ihn auf den ersten Blick erkennen würde; falls nicht, würde sie sich auch mit keinem anderen zufriedengeben und lieber ganz verzichten.
Die romantische Vorstellung eines kleinen Mädchens, könnte man sagen, doch es war eben ihre Vorstellung und sie hing daran. Darin bestätigt worden war sie, als sie vor über einem
Jahr den Mann bemerkt hatte, der von seinem Fenster im Haus gegenüber zu ihr herübersah: Das war er und kein anderer. Er war aufgetaucht.
Doch nun hatte sie ihn verloren. Sie hatte ihn aus eigenem Willen aufgegeben – und ihn in die Klauen der schönen Fremden geraten lassen, ohne auch nur um ihn zu kämpfen.
Einen kurzen Moment lang fühlte sie sich ungemein entmutigt und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Um ihre Traurigkeit vor ihrem Vater zu verbergen, drehte sie sich zur halb offenen Ladentür um und sah, wie Ricciardi die Kirche von San Ferdinando betrat.
XXI
Don Pierino versuchte gerade, das alte Fräulein Vaccaro loszuwerden. Die Dame war eines der einflussreichsten Pfarreimitglieder, eine vermögende und hochbetagte Frau. Unter den Gläubigen des Viertels zirkulierten Gerüchte, denen zufolge sie die Hundert bereits überschritten haben sollte, doch als wahrscheinlicher war es anzusehen, dass sie ihr Alter nach ihrem achtzigsten Geburtstag mindestens zehn Jahre lang nicht mehr gezählt hatte.
Von Zeit zu Zeit, nämlich genau alle drei Tage, hielt sie es für angezeigt, die Kirchenoberen über ihren prekären Gesundheitszustand auf den neuesten Stand zu bringen, und wehe dem, den sie dann gerade erwischte. Dem Pfarrer, Don Tommaso, der inzwischen ein gutes Gespür dafür entwickelt hatte, gelang es, sich gerade noch rechtzeitig aus dem Staub zu machen, bevor das Fräulein das Hauptschiff betrat. Don Pierino vermutete, dass sein Vorgesetzter ein Netz von Wachposten organisiert hatte und irgendein treuloser Ministrant ihn mit einem
Pfiff oder auf andere Weise vorwarnte, wie ein Geheimagent. Fest stand, dass immer er in die Klauen der Alten geriet. Da sie überzeugt war, ihre irdischen Leiden würden ihr in Verbindung mit der von ihr deklarierten Keuschheit zu einem sicheren und bequemen Aufstieg ins Paradies verhelfen, legte sie großen Wert darauf, ihre Beichtväter genauestens über die Fortschritte ihrer ungezählten Krankheiten zu unterrichten.
Während er sich also anhörte, wie sehr der Durchfall, den sie gerade erst überstanden hatte, die alte Dame entkräftet hatte, lächelte und nickte Don Pierino brav. Der kleine, stämmige stellvertretende Pfarrer mit den lebhaften olivschwarzen Augen war bei den Gläubigen sehr beliebt, ganz besonders bei den vielen Bedürftigen und Leidenden, die in dem dicht besiedelten Einzugsbereich der Kirche von San Ferdinando lebten. Bei kranken, ausgehungerten oder von Parasiten befallenen Kindern war Don Pierino stets als Erster zur Stelle, mit seinem breiten, ansteckenden Lächeln und dem für seinen Glauben typischen Optimismus.
Don Pierinos Glauben war nämlich fröhlicher Natur und bezog sich auf die gesamte Schöpfung. Der Pfarrer liebte die Kunst, vor allem die Musik, von der er nicht genug bekommen konnte.
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