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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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Krippe ist noch nicht fertig. Du weißt doch, wie sehr Vincenzino daran hängt.
    Wir haben kein Geld dafür, sage ich ihr. Wir haben kein Geld für Essen, für Vincenzinos Medizin und erst recht nicht für Weihnachten, die Krippe, Gebäck und solchen Quatsch. Wie kalt das hier draußen ist. Aber ich kann nicht reingehen, weil ich immer noch weine.
    Angelina zittert nicht, sie schaut die Lichter an. Ihre Stimme ist leise und fest. Wieso? sagt sie. Den Blutsauger haben wir uns doch jetzt vom Hals geschafft, das Aas, da werden wir wieder welches haben. Wir werden essen können und Vincenzino gesund machen, wie der Doktor gesagt hat.
    Bist du sicher? frage ich sie. Bist du sicher, dass nicht gleich der Nächste kommt, wo Garofalo weg ist, und dann noch einer und noch einer? Vielleicht will er sogar noch mehr. Ich kann so nicht weitermachen, ich schaff's nicht.
    Sie dreht sich zu mir um und lächelt. Ihr Lächeln macht mir Angst, sie sieht aus wie ein Skelett, ein Totenkopf. Ich habe nicht mitbekommen, dass sie sich dermaßen abgenutzt hat.
    Der kann doch genauso enden, der Nächste, oder nicht? Er kann auch in seinem Blut dahinsiechen. Vergiss nicht: Er ist tot, aber Vincenzino lebt noch.
    Einer muss also in jedem Fall sterben. Willst du das damit sagen?
    Sie schaut wieder die Lichter an, zieht den Schal fester um sich.
    Sollte es einen Nächsten geben, wird auch er sterben, sagt sie. Wenn ich meinen Sohn retten muss, stirbt er auch.
    Ich bring' ihn eigenhändig um, wenn's sein muss.

XXVI
    Bevor er diesen langen arbeitsreichen Sonntag abschließen konnte, blieb Ricciardi noch eine letzte Sache zu tun. Daher ging er nun rasch in Richtung Arco Mirelli, bevor es zu spät sein würde. Er kannte die Öffnungszeiten des Klosters an den schulfreien Tagen nicht, wollte es aber zumindest versuchen, um Zeit zu sparen.
    Die Novizin erkannte ihn diesmal gleich wieder. Ricciardi fragte nach Schwester Veronica. Dann wartete er, bis die junge Frau zurückkam, um ihn abzuholen, und ihn bat, ihr zu folgen.
    Sie durchquerten den Garten, aus dem die hohen Sandsteinmauern den Wind fernhielten. Nur die Nähe zum Meer war durch das Brausen der Wellen zu erkennen; ansonsten handelte es sich um einen Ort außerhalb von Zeit und Raum.
    Er wurde bis zum Ende einer Steintreppe begleitet. Dort wartete er kurz in der Nähe eines großen Gemäldes, das die
Jungfrau Maria darstellte. Es war ein wunderschönes Bild und trotz seines Alters sehr gut erhalten. Ricciardi war fasziniert: Die Züge der Frau waren äußerst zart, drückten aber ungeheuren Schmerz aus, ihr Blick war zum Himmel gerichtet, der ein kaltes Licht aussandte. Auf Marias Haupt strahlte ein Heiligenschein, in ihrer Brust klaffte eine offene Wunde, in der ein nacktes, schlagendes Herz zu sehen war, das zwei Degen durchbohrten. Eine der Hände der Madonna war in stummem, sorgenvollem Flehen gen Himmel gerichtet, die andere zeigte auf ihre Brust mit dem leidenden Herzen.
    Verwundert hörte Ricciardi Kinderstimmen und das Geklapper von Geschirr aus einem nahe gelegenen Raum. Er hatte geglaubt, im Kloster herrsche sonntags andächtige Stille, stattdessen schien es ihm jetzt viel eher eine Schule zu sein als bei seinem ersten Besuch.
    Von Weitem sah er durch den Flur die rundliche, ein wenig lächerliche Gestalt Schwester Veronicas wippend näher kommen. Sie überfiel ihn gleich mit ihrer eigentümlichen Trompetenstimme:
    – Ich bin überrascht, Commissario. Was führt Sie her – am Sonntag und zu dieser Uhrzeit?
    Ricciardi begrüßte die Frau. Bei der Berührung ihrer winzigen kalten und feuchten Hand spürte er dasselbe Unbehagen wie beim ersten Mal. Er nahm sich vor, sie das nächste Mal schon aus der Ferne zu grüßen.
    – Guten Abend, Schwester. Ich störe nur ungern, aber ich muss Sie etwas fragen. Wenn Sie zu tun haben, kann ich ein andermal wiederkommen.
    Schwester Veronica warf einen Blick auf den Flur, in dem das Geschnatter der Kinder widerhallte. Auf ihrem dicken, geröteten Gesicht zeichnete sich ein zufriedenes Lächeln ab.
    – Sonntags lassen wir die Kinder der Armen aus der Umgebung zu uns ins Kloster, die meisten stammen aus Fischer- und Arbeiterfamilien. Wir geben ihnen zu essen, lassen sie ein bisschen im Warmen spielen. Es sind nicht dieselben Kinder, die hier zur Schule gehen, es ist ein wohltätiges Werk unserer Anstalt. Gerade jetzt, wo Weihnachten vor der Tür steht, erwartet viele von ihnen nicht dasselbe Glück wie in wohlhabenden Familien, also Süßes,

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