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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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Geschenke, eine Krippe. Wir versuchen, dieser Ungleichheit ein wenig abzuhelfen.
    Ricciardi nickte.
    – Das ehrt Sie. Ich wollte vor allem gerne wissen, wie es dem Mädchen geht, Ihrer Nichte.
    Schwester Veronica seufzte und warf einen flüchtigen Blick auf das Bild der Madonna.
    – Was soll ich Ihnen sagen, Commissario? Sie fragt nicht und sagt nichts. Sie ist ein sensibles, zurückhaltendes Kind. Ich bin die ganze Zeit bei ihr, sehe sie schlafen, sie scheint keine Albträume zu haben, zumindest nicht im Moment. Ich glaube, ihr ist noch nicht bewusst, was geschehen ist.
    Ricciardi verstand das, es war eine übliche Reaktion.
    – Und Sie, Schwester? Wie geht es Ihnen?
    – Ich versuche, den Zorn aus meinem Herzen zu verscheuchen. Ich versuche, nicht an meine Schwester zu denken, daran, wie sanft sie war, an die Jahre unserer Kindheit und wie nah wir uns standen. Ich glaube, dass ich denjenigen, der das getan hat, nicht hasse. Wir dürfen nicht hassen, wissen Sie? Wenn sie, – sagte sie und wies mit dem Kopf auf die Jungfrau Maria auf dem Gemälde, – die Menschheit nicht hasste, die ihren Sohn gekreuzigt hat, und sich sogar bei ihm für uns alle einsetzte, wer sind dann wir schon, dass wir uns gegenseitig hassen könnten?
    Ricciardi fühlte sich hin und her gerissen, wie jedes Mal, wenn er mit der unerschütterlichen Logik des Glaubens konfrontiert wurde. Einerseits beneidete er die Fähigkeit, die eigenen Gefühle zu kontrollieren, andererseits bereitete ihm das Fehlen menschlicher Empfindungen, und seien sie auch negativ wie Wut oder der Wunsch nach Rache, Unbehagen.
    – Meine Schwester und ihr Mann, – sagte Schwester Veronica eben, – sind zurückgekehrt ins Haus ihres Vaters. Wer das getan hat, muss dafür bestraft werden und wird es sicher auch vor dem Jüngsten Gericht, nicht bloß hier auf Erden. Es lohnt sich nicht zu hassen.
    – Ich verstehe, Schwester. Wir müssen unsere Ermittlungen allerdings fortsetzen. Als wir uns letztes Mal gesehen haben, fragte ich Sie, ob Ihre Schwester oder Ihr Schwager Ihnen etwas über etwaige Drohungen oder Ähnliches anvertraut haben.
    Schwester Veronica erinnerte sich sehr gut. Sie antwortete in ihrem schrillen Ton, der durch den Widerhall des Korridors noch verstärkt wurde:
    – Und ich habe Ihnen bereits geantwortet: Nein, sie hatten mir nichts dergleichen anvertraut. Ich habe gestern und heute weiter darüber nachgedacht, aber es fällt mir einfach nichts ein.
    Ricciardi wurde nun deutlicher bezüglich des Grundes seines Besuchs.
    – Richtig. Ich wollte Sie allerdings fragen, ob ich – natürlich in Ihrem Beisein – einen Augenblick mit dem Mädchen sprechen dürfte, vielleicht erinnert sie sich an etwas oder an jemanden.
    Schwester Veronica verzog das Gesicht zu einer komischen Grimasse.
    – Commissario, ich weiß nicht, ob …
    Während sie sprach, ging eine Tür auf und ein kleiner Junge rannte blitzschnell hinter ihr vorbei.
    – Schwester Veronica, ich muss mal, – stieß er dabei hervor.
    Ohne hinzusehen, streckte die Nonne ihre Hand aus und packte den Kleinen am Ohr, womit sie ihn zu einem plötzlichen und schmerzhaften Abbremsen zwang. Ricciardi erinnerte sie an ein Reptil mit Greifzunge, das ein fliegendes Insekt einfängt.
    – Und was tust du zuerst vor dem Bild der Madonna?
    Der Junge fiel auf die Knie und bekreuzigte sich eilig. Doch die Nonne, die ihren Griff nicht gelockert hatte, gab sich nicht damit zufrieden.
    – Die Heiligenbilder heißen so, weil sie heilig sind, das hab' ich euch schon hundert Mal erklärt. Wenn ihr an einem vorbeikommt, ob in der Kirche oder auf der Straße, müsst ihr stehen bleiben und euch bekreuzigen, vielleicht sogar ein kurzes Gebet sprechen. Wie heißt es? Gegrüßet seiest du, Maria, voll der Gnade …
    Der Junge ratterte den Rest des Gebets in einem Atemzug herunter, bekreuzigte sich noch einmal und wurde endlich freigelassen, sodass er den Flur entlang in Richtung Toilette stürzen konnte.
    Schwester Veronica lächelte:
    – Sie sind ein bisschen unzivilisiert, aber unschuldige Seelen. Na gut, Commissario, ich hole Benedetta. Aber bitte machen Sie es kurz.
    Das Mädchen gleicht seiner Tante mehr als seinen Eltern, dachte Ricciardi, sobald er die Nonne mit ihrer Nichte im Flur näher kommen sah. Derselbe wippende Gang, dasselbe runde, rote Gesicht. Der Kommissar bewunderte die Kleine dafür, die
ständig verschwitzte Hand Schwester Veronicas ohne Ekel zu halten; er selbst hätte das nicht geschafft.
    Der

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