Die Gabe des Commissario Ricciardi
doch wohl nicht so, im Wartesaal von einem Krankenhaus; man muss in eine Kirche gehen und es vor einem Heili
genbild aussprechen, was Sie nicht getan haben. Drittens: Man kann nur auf etwas verzichten, das einen ganz allein betrifft und keinen anderen. Mit diesem Gelübde haben Sie aber auch ihm etwas Wichtiges weggenommen, und schließlich hat er gar nichts versprochen.
Enrica schüttelte mehrere Male den Kopf.
– Aber ich weiß doch, dass ich's versprochen habe. Ich kann doch kein Versprechen brechen, das ich der Madonna gegeben habe. Und außerdem, außerdem … ist da noch diese Frau, die schöne Fremde. Ich hab' sie schon früher mit ihm zusammen gesehen, mehr als einmal, sodass ich geglaubt hatte, sie … na ja, sie seien verlobt. Wenn sie ihm nicht gefallen würde, würde er sie doch wegschicken, oder nicht? Ich weiß nicht, was ich tun soll …
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Rosa schaute flüchtig zu ihrer Hand, die leicht zitterte; sie durfte keine Zeit mit diesen Dummheiten verlieren.
– Genau deshalb wollte ich ja mit Ihnen sprechen. Reden wir Klartext, meine Liebe: Männer sind schwach. Sie glauben, alles selbst zu entscheiden, zu wählen und zu tun, dabei entscheiden, wählen und tun sie genau das, was wir für sie beschließen. Aber nicht alle von uns – nur die stärksten und resolutesten. Die Frau, die Sie meinen, diese Fremde … Sie finden sie ja schön, aber mir kommt sie eher dürr und kränklich vor … scheint mir sehr resolut zu sein. Was wollen wir also tun, wollen wir ihr freie Hand lassen? Wollen wir sie entscheiden lassen, damit sie ihn sich schnappt und ihn irgendwohin in den Norden schleppt?
Enrica riss die Augen auf.
– Nein, natürlich nicht. Auf keinen Fall. Wissen Sie, Signora,
eine Sache weiß ich ganz sicher: Ich werde nie einen anderen lieben. Nie. Entweder er oder keiner.
Rosa platzierte ihren beträchtlichen Hintern etwas bequemer auf dem Stuhl und richtete sich den Hut mit kriegerischer Miene.
– Na also, dann wären also zwei Dinge zu tun: Zuerst gehen Sie zu einem Priester wegen dieser Sache mit dem Gelübde, dann hätten wir das hinter uns. Und dann muss entschieden werden, wie wir weiter vorgehen, um die Sache in Ordnung zu bringen, bevor die Frau aus dem Norden unsern Jungen in die Finger bekommt.
Enrica begriff, dass sie nicht mehr allein war.
– Wegen des Priesters hätte ich schon eine Idee. Ich kenne vielleicht einen, der unser Problem verstehen könnte.
Kaum waren sie um die Ecke gebogen und hatten die Gasse verlassen, befanden sich Ricciardi und Maione wieder mitten im Weihnachtstrubel, aber das reichte nicht aus, um die traurige Begegnung mit Lomunno vergessen zu machen.
– Keine Ahnung, wie's Ihnen geht, Commissario, aber mich hat das Gespräch mit Lomunno ganz schön mitgenommen. Ich weiß auch nicht genau, was ich davon halten soll.
Ricciardi lief neben ihm mit vom Mantelkragen verdecktem, eingezogenem Kopf, den Blick ins Leere gerichtet.
– So ist es immer, wenn man Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung sieht. Er hat noch nicht wieder angefangen zu leben, vielleicht versucht er es jetzt gerade. Was nicht heißt, dass er die Garofalos nicht getötet hat. Rache, weißt du, ist wie ein wildes Tier. Sie brütet im Verborgenen, manchmal jahrelang, schnellt dann plötzlich empor und verschlingt alles.
Maione war nachdenklich:
– Schon richtig, aber es stimmt auch, was er gesagt hat: Die Rache ist teuer. Man muss sie sich leisten können. Was hätte es ihm gebracht, sich zu rächen? Er hätte seine Kinder damit endgültig ins Verderben gestürzt.
– Rache ist nicht rational. Eines Abends kurz vor Weihnachten sitzt du vielleicht, wie Lomunno, halb betrunken da und findest es plötzlich ungerecht, dass der geliebte Mensch tot ist und der Schuldige fröhlich und zufrieden weiterlebt und sich aufs Fest freut. Also beschließt du, selbst für Gerechtigkeit zu sorgen. Du schnappst dir ein Messer, eine Pistole oder was auch immer und bringst die Dinge in Ordnung.
Maione schlug das Herz bis zum Hals.
– Die Dinge in Ordnung bringen, ja … wer zu bezahlen hat, zahlt dann endlich. Alles stimmt wieder.
Ricciardi blieb schlagartig stehen.
– Bloß, dass auf diese Weise leider gar nichts in Ordnung kommt. Um einen Fehler wiedergutzumachen, begeht man noch einen, dann noch einen und so fort, und alles nimmt kein Ende. Verzeihen ist schwer, vielleicht unmöglich. Aber es ist Sache der Justiz, die Dinge in Ordnung zu bringen. Meinst du
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