Die Gabe des Commissario Ricciardi
nicht?
Maione war durcheinander.
– Rache ist menschlich, Commissario. Manchmal ist es schwieriger, sich nicht zu rächen, als sich zu rächen.
Ricciardi ging wieder schnellen Schrittes weiter.
– Ja, das stimmt. Also können wir Lomunno in unserem Fall nicht als möglichen Schuldigen ausschließen. Im Übrigen hat er kein Alibi, zumindest keines, das ihn über jeden Verdacht erheben würde, und seine wiedergefundene Ruhe, diese Lust auf
Weihnachten und Familie, auf eine Krippe und Gebäck für die Kinder könnte bedeuten, dass sein Gewissen nun schweigt, gerade weil er sich gerächt hat.
Maione nickte nachdenklich.
– Sie haben recht. Andererseits ist Lomunno allein. Wem gehörte dann die zweite Hand, die dem Doktor zufolge Garofalo verletzt hat?
Sie waren in der Nähe des Präsidiums angelangt. Um ein Haar überfuhr sie der vollgepackte Karren eines Topfhändlers, dessen Ladung mit lautem Klirren aneinanderschlug.
Ricciardi sagte:
– Wir müssen zum Borgo Marinari und diese Erpressungsgeschichte weiter vertiefen. Vielleicht haben wir dort mehr Glück.
Als er in den Hof des Präsidiums bog, sah er dort Livias geparkten Wagen und sie selbst, die sich daran anlehnte und lächelnd rauchte. Ihm entging nicht, dass etwa zehn seiner Kollegen trotz Kälte rein zufällig gerade am Fenster standen.
Mit blitzenden Augen schnippte die Frau die Asche der Zigarette weg.
– Gerade rechtzeitig, bevor mir die Nase abgefroren wäre. Ciao, Ricciardi. Schön, dich wiederzusehen.
XXXII
Die todbringenden Hände beenden ihre Arbeit.
Sie sind langsamer geworden, weil sie schon zu weit waren, die Vorbereitung aber einer bestimmten Choreographie zu folgen hat, alles zu seiner Zeit, Schritt für Schritt, bis zum großen Finale. Das Finale besteht nur aus einer einzigen Bewegung.
Die Hände sind geschäftig, sie halten keinen Augenblick still. So viele Dinge sind richtig zu rücken, zu verschieben, hier ein wenig nach vorn, da ein wenig nach hinten.
Man mochte glauben, wenn das Gröbste erst mal getan war, die Landschaft mit Grotten, Terrassen, Tempeln und Schluchten geschaffen, sei die Arbeit fast fertig – weit gefehlt.
Die todbringenden Hände wissen genau, dass die Details den Unterschied machen. Die Vorbereitung ist zwar wichtig, genau wie die Ausführung, doch die Details unterscheiden eine gut gemachte von einer oberflächlichen Arbeit.
Die Hände füllen den Brunnen mit echtem fließendem Wasser. Der Brunnen versetzt die Kinder in Verzückung: Der dünne Wasserstrahl, der sich inmitten der regungslosen Figuren bewegt, lässt die ganze Krippe echt erscheinen.
Sie ordnen auch die Gräser und Kräuter richtig an: Rosmarin, Myrte, Moos, Mäusedorn. Die todbringenden Hände kennen die Tradition: Die Kräuter vertreiben die bösen Geister, die die Häuser von Allerseelen bis zum Dreikönigstag heimsuchen. An Weihnachten sollen sie verscheucht sein, die bösen Geister.
Denn wer tot ist, ist tot und soll bei den Toten bleiben. Er soll nicht wiederkehren.
Die todbringenden Hände berühren einander leicht, wohlgefällig. Es fehlt wirklich nicht mehr viel.
Und alles wird perfekt sein.
XXXIII
Maione nutzte Livias Besuch, um sich aus dem Staub zu machen, trotz Ricciardis hilfesuchendem Blick.
– Wenn Sie erlauben, Commissario, erledige ich rasch ein paar Besorgungen für Weihnachten. Wir sehen uns in einer Stunde, dann machen wir unseren Spaziergang nach Borgo Marinari.
Livia mischte sich ins Gespräch:
– Ein herrlicher, sehr ursprünglicher Ort. Ich mag die Häuser der Fischer und die Boote am Kastell dell'Ovo. Im Sommer war ich dort; lohnt sich ein Besuch auch im Winter?
Ricciardi machte es kurz:
– Nein, das lohnt sich nicht. Wir müssen wegen der Arbeit hin, ein paar Leute vernehmen. Ist gut, Maione, geh nur. Aber bleib nicht zu lange weg, wir haben zu tun.
Unter den neugierigen Blicken der Angestellten des Präsidiums sowie einer unbestimmten Zahl von Anwälten begaben sich Livia und Ricciardi zu dessen Büro. Ein Mann in Handschellen, der gerade von zwei Wachen in seine Zelle geführt werden sollte, ließ sich zu einem langen, bewundernden Pfiff hinreißen, als er die Frau vorbeigehen sah. Einer der Polizisten verpasste ihm einen Klaps auf den Hinterkopf, wechselte aber mit seinem Kumpel einen komplizenhaften Blick: Die da konnte ganz sicher nicht unbemerkt vorbeigehen.
Ricciardi allerdings konnte es nicht leiden, wenn ihm zu viel Aufmerksamkeit zuteilwurde, weshalb er seine Schritte beschleunigte
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