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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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und einen langen Seufzer der Erleichterung ausstieß, als er die Tür hinter sich schloss.
    – Musste es unbedingt so ein theatralischer Auftritt sein?
    Livia streifte sich die Handschuhe ab.
    – Ich freue mich auch, dich zu sehen, danke. Einen schönen Tag auch dir, wie geht es dir?
    Der Kommissar verstand.
    – Tut mir leid. Guten Tag, Livia. Du weißt ja, ich mag's nicht, im Mittelpunkt zu stehen. Das Präsidium ist wie ein großes Dorf, es wird getratscht und gewitzelt und alles auf Kosten der Arbeit.
    Die Besucherin machte es sich auf dem Sessel bequem, nachdem sie den an Manschetten und Kragen mit Pelz besetzten Mantel abgelegt hatte.
    – Ach ja, die Arbeit. Die einzige Sorge. Nie eine Pause einlegen, nie auf das hören, was das Herz verlangt.
    – Livia, ich bitte dich. Bring mich nicht in Verlegenheit.
    – Ach so ist das, ich bringe dich in Verlegenheit, wie schön. Hör mal, Ricciardi, und wenn wir Klartext redeten, ein für alle Mal? Wenn wir der Wahrheit einfach ins Gesicht sähen, glaubst du nicht, das wäre besser für uns beide?
    Ricciardi ging zum Fenster, von wo aus er den Verkehr auf dem Platz beobachtete. Die letzten Blätter der kahlen Steineichen bewegten sich im Wind, fahrende Händler überquerten eilig die Straße, um ihre Ware zu den am meisten frequentierten Plätzen zu bringen. In der Ferne zeichneten sich, schon fast verblasst, die Bilder einer Mutter und ihrer Tochter ab, die vor etwa drei Monaten bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren. Die beiden, die – anders als die Passanten – leichte Sommerkleidung trugen, wechselten unverständliche Worte: Beeil dich, wir sind spät dran , sagte die Mutter mit den glatt abgetrennten Beinen. Mein Kreisel, ich hab' meinen Kreisel verloren , antwortete das Mädchen mit dem zerschmetterten Schädel. Das Spielzeug war zu hastig aufgehoben worden. Man kehrt nicht plötzlich um, nachdem man die Straße bereits überquert hat.
    Man kehrt nicht um.
    – Livia, du weißt, wie ich darüber denke. Wir haben es schon oft besprochen. Du bist eine wunderschöne Frau, das weißt du und zeigt man dir auch. Du kannst jeden Mann haben, den du willst. Und selbst ohne deine Schönheit wärst du noch klug, geistreich, vermögend. Warum ich? Mit allen Problemen, all meinen Unzulänglichkeiten?
    Die Frau nahm die Frage, die sie sich im Übrigen oft selbst stellte, durchaus ernst. Sie dachte an ihre Verehrer, sowohl an die früheren, die sie immer noch aus Rom anriefen, als auch an die neuen, die ihr nun jeden Morgen Blumen und Süßigkeiten mit glühenden Liebeserklärungen schickten.
    – Ich möchte aber dich. Sieh mal, Ricciardi: Ich sehe in dir zwei verschiedene und voneinander unabhängige Personen. Die eine hält die andere versteckt, angekettet, als ob sie sie entführt hätte, und zwingt sie zu einer langen, unfreiwilligen Einsamkeit. Doch hinter dem scheinbaren Mangel an Gefühlen steckt jemand, der gerne lachen und ans Licht kommen möchte, geliebt werden möchte. Du weißt, dass ich vor gar nicht langer Zeit den Beweis dafür erhalten habe.
    Ricciardi seufzte und kehrte dem Fenster den Rücken zu.
    – Den Beweis, sagst du?
    Livia lachte nervös. Dieser Mann beunruhigte sie zutiefst; zum ersten Mal in ihrem Leben wusste sie nicht, wie sie sich verhalten sollte.
    – Ich weiß, was du sagen willst. Dass es dir schlecht ging, dass du Fieber hattest. Dass es regnete, stark sogar, und du schlimmen Kummer wegen etwas hattest. Aber du lagst in meinen Armen, Ricciardi, und eine Frau spürt, wann ein Mann ganz bei sich selbst ist.
    Ricciardi schaute sie lange an. Ihr dreistes Auftreten, die aggressiven Worte standen im Widerspruch zu Livias verlorenem Blick und ihrer leicht zitternden Unterlippe. Das erweichte ihm das Herz.
    – Ich sage nicht, dass ich nicht bei mir war. Auch nicht, dass ich mich nicht daran erinnere, was in jener Nacht zwischen uns passiert ist. Ich war schwach, das ja, und schleppte eine große Last mit mir herum. Meine Einsamkeit wog zu schwer und ich schaffte es nicht, sie allein zu tragen. Ich wollte zu dir kommen, Livia, das muss ich zugeben, auch wenn ich dann nicht an deine Tür geklopft habe. Ich habe mich nach Wärme gesehnt, nach Haut und Händen. Bitte verzeih mir.
    Ricciardis Schwächeeingeständnis verwirrte Livia aufs Neue, weil sie nicht damit gerechnet hatte.
    – Verstehst du denn nicht, dass ich dir genau das geben möchte? Ein wenig Wärme und Freude? Jetzt sag' ich dir mal was: Ich stelle keine Forderungen, diese

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