Die Gabe des Commissario Ricciardi
Art von Frau bin ich nicht. Du bist zu mir gekommen, darüber hab' ich mich gefreut. Es war sehr schön mit dir, aber ich sehe auch ein, dass es eine Art Flucht war. – Sie schlug die Hand vor die Augen. – Aber es beweist auch, wie es für jemanden wie dich möglich ist, wenn schon nicht glücklich, dann doch wenigstens unbeschwert zu sein.
Ricciardi hörte ihr im Stehen zu, die Hände in den Taschen, seine widerspenstige Haarsträhne im Gesicht, die grünen Augen ausdruckslos.
– Es gibt Dinge, die du über mich nicht weißt, Livia. Ich bin nicht so … distanziert, sagen wir, weil ich es mir ausgesucht habe. Jeder hat seine Eigenarten, und meine halten mich fern von bestimmten Gefühlen. – Er schloss die Augen halb und
hörte das Mädchen, das auf der Straße sein Spielzeug suchte. – Und da ist noch was anderes. Ich empfinde etwas für jemanden, ich glaube, etwas Ernstes. Ich hab's dir mal gesagt. Es gibt eine andere Frau, will ich damit sagen.
Livia wurde schwindelig. Ihr Herz schlug heftig. Kämpfe, sagte sie zu sich. Wenn du diesen Mann wirklich willst, dann kämpfe.
– Und weiß sie es? Hast du ihr gesagt, was du für sie empfindest? Hast du sie berührt, mit ihr geschlafen? Hat sie deinen Atem auf ihrer Haut gespürt?
Ricciardi wollte etwas sagen, ließ es dann aber. Er wurde blass.
– Nein, sie weiß es nicht. Ich hab's ihr nicht gesagt.
Livia lachte, aber ihr Blick blieb ernst:
– Ja, und? Das heißt doch, dass dich mit mir etwas mehr verbindet, nicht? Es war zwar nur ein Augenblick, aber wir haben ihn geteilt. Zumindest das haben wir gemeinsam.
Ricciardi blickte sich um: Er sah den alten hölzernen Lehnstuhl, den Schreibtisch mit der abgenutzten olivgrünen Unterlage, die Glühbirne, die in der Mitte des Zimmers von der Decke baumelte, weil der seit einem Jahr kaputte Lampenschirm nie ersetzt worden war. Das Tintenfass aus Kristall, den Briefbeschwerer, bestehend aus einem Granatsplitter. Seine Welt.
– Schau dich um, Livia. Was siehst du? Ein altes, schäbiges Büro. Mein Leben findet hier statt, mehr als in irgendeiner Wohnung, in der ich mich nicht zu Hause fühle. Was kann jemand wie ich einer Frau geben? Ich weiß nicht, wie lange ich leben werde, aber meine Zeit werde ich hier verbringen. Warum willst du so einen Mann?
Livia stand auf. Sie lächelte sanft, aber von ihrer Wange fiel eine Träne herab.
– Du verstehst es nicht, stimmt's? Du kannst es dir nicht vorstellen. Es gibt kein Warum . Man verliebt sich, einfach so, ohne Grund. Auch eine Frau wie ich, die ein sehr ausgefülltes Leben hatte, die viel Glück und viel Unglück erfahren hat, kann sich noch verlieben. Es ist ein Geschenk, das du mir gemacht hast, Ricciardi, ob du mich nun willst oder nicht: Durch dich habe ich begriffen, dass ich noch lebe, dass ich mich noch verlieben kann.
Sie drehte sich um, ging auf die Tür zu, legte die Hand auf die Klinke. Dann wandte sie sich ihm wieder zu:
– Ich möchte, dass du es weißt: Ich werde für diese Liebe kämpfen. Ich werde nichts unversucht lassen. Denn ich weiß, dass du mich tief in deinem Inneren auch willst, dass du befreit werden möchtest aus dieser unseligen Gefangenschaft, die du dir selbst auferlegt hast – Gott allein weiß, wie und warum. Unterschätze eine liebende Frau nicht, Ricciardi. Das wäre dumm.
Sie verließ das Zimmer und eilte zu ihrem Wagen. Im Auto ließ sie ihren Tränen freien Lauf.
Als das Fahrzeug den Hof verließ, beobachteten es verstohlen zwei Augen aus dem gegenüberliegenden Hauseingang.
XXXIV
In dem Gewimmel von San Gregorio Armeno musste Maione an die elende Behausung denken, in der Lomunnos Familie oder zumindest die, die davon übrig geblieben waren, lebten. So wie Weihnachten am Eingang zu jener Schotterstraße aufgehört und die Bewohner ihrem Schicksal überlassen zu haben schien, zeugte hier jedes einzelne Fenster, jede Tür und jeder Laden unüber
sehbar davon, dass das wichtigste Fest des Jahres bevorstand und man sich lieber darauf vorbereiten sollte.
Das Viertel war von jeher der Ort der Krippenfiguren, des Dekors, der schönen Dinge für zu Hause. Das Geschäft begann Ende Oktober und ging bis zum Dreikönigstag, um danach in eine Art Winterschlaf zu fallen, während dessen man sich auf die Herstellung von Stoffblumen spezialisierte, mit denen die Hüte und Kleider der Damen in den Städten geschmückt wurden.
Mindestens sechs von den Kaufleuten bezahlte Dudelsackpfeifer spielten ihre Melodien. Obwohl es noch hell
Weitere Kostenlose Bücher