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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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umgesiedelt worden. Viele hatten im Erdgeschoss kleine Gaststätten eröffnet, in denen im Sommer der frisch gefangene Fisch zubereitet wurde und die sogar bei den Touristen in Mode gekommen waren. Der appetitliche Duft von Gegrilltem gelangte nämlich bis zu den luxuriösen Hotelzimmern. Doch abgesehen von diesem saisonalen Geschäft lebten die Leute im Viertel vom Beruf ihrer Väter, Großväter und Urgroßväter.
    Übriggeblieben waren nur noch ein paar Dutzend Familien, die nach Jahrhunderten alle miteinander verwandt waren. Die fähigsten und ehrgeizigsten jungen Leute hatten es vorgezogen, sich auf den großen Überseedampfern nach Amerika einzuschiffen oder im Sumpf der Stadt leichteres Geld zu machen. Die, die noch da waren, konnten oder wollten nichts anderes tun.
    Ricciardi und Maione hatten ihren Weg schweigend zurückgelegt; es war windig, man verstand kaum sein eigenes Wort und beide waren mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.

    Der Brigadiere war von einer großen inneren Unruhe befallen. Er dachte an Rache, Gerechtigkeit, ans Leben und an den Tod. Sein schlichtes Gemüt, das nur zwischen Richtig und Falsch unterschied, konnte es nicht zulassen, dass ein Mörder, der für seinen eigenen ungeheuren Schmerz verantwortlich war und seine Frau drei Jahre lang zu einem Schattendasein verdammt hatte, nicht für das begangene Verbrechen bestraft wurde. Dessen war er sich vollkommen sicher.
    Andererseits fragte er sich: War er denn der Richter? Er war Polizist und gewohnt, Grundsätze zu befolgen, die anderswo festgelegt worden waren, in Gesetzen nämlich, die intelligentere und gebildetere Männer als er beschlossen hatten und die er lediglich anwenden sollte. Er fing die Verbrecher und übergab sie. Von dem Zeitpunkt an – ein Grundsatz, an den er sich sein ganzes Leben lang gehalten hatte – war es nicht mehr seine Aufgabe, sich um das Schicksal der Person zu kümmern, die die Straftaten begangen hatte. Es hätte ihm auch nicht gefallen, Richter zu sein. Er war immer der Ansicht gewesen, ein schwaches Gewissen zu haben, und hätte nicht mehr ruhig schlafen können.
    Er wusste allerdings auch genau, dass Biagio nach dem Gesetz ungestraft davonkommen würde: Es hatte schon einen Prozess und eine entsprechende Verurteilung gegeben. Das Geständnis des sterbenden Bruders war durch Massas Täuschung zustande gekommen, indem er sich als Priester ausgegeben hatte. Ohnehin gab es keine Beweise.
    Maione fragte sich, was Lucia gewollt hätte. Am liebsten hätte er mit ihr sprechen wollen, um die schreckliche Neuigkeit mit ihr zu teilen und sie um Rat zu bitten, was nun zu tun und vor allem wie es zu tun sei. Der Gedanke an seine Frau quälte
ihn. Er erinnerte sich an ihr furchtbares Leid, die Traurigkeit, die immer noch aus ihren Blicken sprach, ihre Pein an den Tagen nach dem Mord. Wie viel Mitleid hätte Lucia für denjenigen gehabt, der diesen Schmerz verursacht hatte? Nein, er konnte ihr den ganzen Kummer nicht noch einmal zumuten. Die Verantwortung für das, was zu tun war, ruhte ganz allein auf seinen Schultern. Am Ende war er gegen seinen Willen doch noch zum Richter geworden, und auf dem Prüfstein stand sein eigenes Gewissen.

    Neben ihm ging Ricciardi, der ebenfalls von einer Flut von Gedanken bestürmt wurde.
    Livias Besuch hatte ihn stärker aufgewühlt als erwartet. Er hatte sie nach dem Unfall schon gesehen, sie war die Erste gewesen, die ins Krankenhaus geeilt kam. Auch im Präsidium war sie mehrere Male erschienen – zur großen Freude der Klatschmäuler und des Vizepräsidenten Garzo, der sein breites Grinsen liebend gern für jeden bereithielt, der ihn lobend in Rom erwähnen konnte. Allerdings hatte Ricciardi dafür gesorgt, nie mit ihr allein zu sein.
    Diesmal jedoch hatte er sich ihr nicht entziehen können. Er hatte es auch zuvor nicht aus Feigheit getan, sondern um sie nicht verletzen zu müssen. Nur zu gut wusste er – wie es dann ja auch passiert war –, dass er es nicht lassen können würde, ganz genau das zu sagen, was er fühlte. Leider brachte er keine rhetorischen Kunststücke zustande und die Diplomatie gehörte nicht zu seinen wenigen Tugenden.
    Er glaubte Livia nicht zu lieben, fragte sich aber, ob das wirklich stimmte. Seine dürftige Begabung in Gefühlsfragen, seine geringe Erfahrung und das Fehlen früherer Beziehungen
ließen diesbezüglich Zweifel in ihm aufkommen. Es schmeichelte ihm, dass alle Livia bewunderten; er mochte ihre exotische Ausstrahlung, ihre geschmeidigen

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