Die Gabe des Commissario Ricciardi
scheint mir recht tüchtig zu sein.
Der Besitzer kam hinter der Kasse hervor und sah zur Tür hinaus. Zufrieden stellte er fest, dass die Gruppe von Leuten um das Tischchen seines Mitarbeiters größer geworden war.
– Er ist tüchtig, das stimmt. Ich arbeite seit vierzig Jahren in meinem Beruf und half vorher schon im Laden meines Vaters. Ich hab' noch nie jemanden so schnell dazulernen sehen. Der Junge arbeitet mehr und besser als dieser Taugenichts von meinem Sohn, der seit fünfzehn Jahren im Geschäft ist und immer noch kein Holz anrührt.
Maione gab ein gerade noch wohlerzogenes Interesse vor:
– Ach, und wie lange ist der Junge denn schon bei Ihnen?
– Biagio? Dreieinhalb Jahre werden es sein, das ist jetzt sein viertes Weihnachten. Ich weiß noch, wie er hierherkam: Einen ganzen Tag lang hat er sich draußen rumgedrückt, durchs Schaufenster geschaut, sich an die Tür gestellt, ohne reinzukommen. Irgendwann hab' ich ihm zugerufen: He Bursche, was suchst du denn? Nichts, hat er gesagt. Brauchen Sie vielleicht jemanden zum Saubermachen? In Ordnung, hab' ich geantwortet, aber nur jetzt für die Feiertage. Dann hat sich einer der Arbeiter bei einer Prügelei verletzt, sie haben ihm die Finger gebrochen, und er sprang für ihn ein. Bis heute. Er vollbringt wahre Wunder mit dem Messer.
Maione spürte einen heftigen Stich bei diesen Worten. Einem hilflosen Jungen eine Klinge in den Rücken zu rammen ist wahrlich kein Wunderwerk.
– Er hilft Ihnen also, es läuft alles gut. Und beträgt er sich auch anständig?
Das war keine ungewöhnliche Frage, von einem Polizisten gestellt. Der Besitzer schöpfte keinen Verdacht.
– Absolut, Brigadiere, ein Goldjunge. Er ist verheiratet und
hat zwei kleine Kinder. Nachdem er ein paar Monate hier war, hat er ganz in der Nähe eine Wohnung gefunden. Seine Frau ist noch fleißiger als er, wirklich ein tüchtiges Mädchen. Sie bemüht sich redlich, hilft in den umliegenden Haushalten mit aus und lässt die Kinder bei einer älteren Nachbarin. Jeder hier im Viertel mag sie. Gerade ist sie bei meiner Frau, gegenüber. Ab und zu schaut sie aus dem Fenster, um ihrem Mann bei der Arbeit zuzusehen. Da ist sie ja, sehen Sie sie?
Als er dem Blick des Mannes folgte, sah Maione am Fenster des zweiten Stocks im Haus gegenüber die dunkelhaarige junge Frau, die er schon am Morgen gesehen hatte. Sie erschien dort nur kurz, lächelte und warf ihrem Mann einen Kuss zu, der den Gruß mit einem Kopfnicken erwiderte, ohne mit der Arbeit aufzuhören.
Der Besitzer suchte Maiones Blick.
– Es ist doch herzerwärmend, wenn zwei junge Menschen sich so gern haben und sich solche Mühe geben, um sich durchzuschlagen. Bestimmt kommt's Ihnen sonderbar vor, wo Sie doch von morgens bis abends mit dem übelsten Gesindel zu tun haben, nicht?
Maione zuckte mit den Schultern.
– Ich weiß nicht. Manchmal sind die Leute anders, als es scheint. Im Guten wie im Schlechten. Es ist spät geworden, ich muss los. Was schulde ich Ihnen für die Kuh?
Während er eilig zurück zum Präsidium ging, tobte in Maione ein Sturm. Verheiratet, zwei kleine Kinder – Lucas Leben hätte auch so sein können. Da war doch dieses Mädchen gewesen, wie hieß sie noch gleich? Marianna. Die Tochter von Rosario, dem Fahrradmechaniker.
Die kleineren Geschwister hatten ihn damit aufgezogen, Luca hat eine Freundin, Luca hat eine Freundin, sangen sie, und er tat lachend so, als wolle er sie fangen. Vielleicht wäre er jetzt verheiratet und ich wäre schon Opa. Hätte eine Enkelin und einen Enkel. Und der andere Kerl, der heute mit seinen Schnitzkünsten prahlt, würde mit seinem Bruder auf Raubzug gehen. Vielleicht hätte es schon ein böses Ende mit ihm genommen und er wäre selbst von einem anderen seiner Sorte auf der Straße kaltgemacht worden.
Maione hörte wieder die Stimme Franco Massas, Lucas Paten, der den Priester gespielt hatte: Wir müssen diesen Biagio finden und ihn töten wie einen Hund, wie er's mit Luca gemacht hat. Ihn töten wie einen Hund. Wie einen Hund. Wenn du's nicht kannst, tu ich es.
Während die Dudelsackpfeifer ihre Melodien spielten und die Leute sich aufs Weihnachtsfest freuten, dachte Raffaele Maione an den Tod.
XXXV
Beim Klang des Dudelsacks, der von der Straße her durchs Fenster kam, dachte Lucia Maione ans Leben.
Sie überlegte, dass das Leben eine merkwürdige Sache war, die niemand je verstanden hatte, weder Philosophen noch Liedermacher, und erst recht nicht sie selbst, eine
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