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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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Bewegungen, ihren leicht wilden Duft; sie hatte er instinktiv gesucht, als Einsamkeit, Fieber und Beklemmnis ihm im Novemberregen unerträglich geworden waren. Aber, fragte sich Ricciardi, war das Liebe?
    Da war natürlich noch Enrica. Ihre innere und äußere Ruhe, der Funke Fröhlichkeit hinter den Gläsern ihrer runden Hornbrille. Seine Freude, sie zu sehen, der Frieden, den er fand, wenn er sie abends hinter ihrem Fenster erblickte, sein aktueller Schmerz über die geschlossenen Fensterläden. War das nun Liebe?
    Die Frage jedoch, die ihn am meisten quälte, war: War in seinem Leben überhaupt Platz für die Liebe?
    Nachdem er sie als eine der beiden Hauptursachen für ein Verbrechen erkannt hatte, sogar noch heimtückischer und unbegreiflicher als der Hunger? Nachdem er Tag für Tag ihre dramatischen Folgen zu sehen bekommen hatte, Blut, Schmerz und Leid? Nachdem er die Schwächen kannte, die sie mit sich brachte, den Abschied und die Verlustangst, wollte er sie da wirklich in seinem Leben, die Liebe?
    Er hatte sie immer sorgfältig gemieden. Stets hatte er sie mit Misstrauen betrachtet und aus der Ferne, ihre Auswirkungen mit äußerster Vorsicht gehandhabt, um nicht davon angesteckt zu werden. Und nun fragte er sich sogar nach dem Unterschied zwischen zwei Gefühlen, die er empfand, und versuchte, ihnen auf den Grund zu gehen.
    Was zum Teufel geschieht mit dir, Ricciardi? fragte er sich. Hast du beschlossen, dich ins Leere zu stürzen, in den Abgrund,
an dessen Rand du stets gewandelt bist? Hast du gar keine Angst mehr?
    Er versuchte, sich auf die laufenden Ermittlungen zu konzentrieren. Das Blut, die Leichen, die Wundmale blitzten kurz in seiner Erinnerung auf und er hörte wieder die letzten Worte der Toten. Er sah auch die Betretenheit von Garofalos Kollegen, die zwar behilflich sein wollten, gleichzeitig aber fürchteten, irgendjemand in Rom oder in Neapel könne insgeheim beabsichtigen, die Schwachstellen der Miliz an die Öffentlichkeit zu bringen. Die Verzweiflung und das Leid Lomunnos, eines Mannes, der sein Leben verloren hatte und noch nicht wieder von den Toten auferstanden war. Das ernste Gesicht des Mädchens, das barfuß auf Zehenspitzen in dem übelriechenden Topf rührte, und die traurige Entschlossenheit, mit der es sein Brüderchen vom Boden aufgehoben und weggebracht hatte, als die Worte des Vaters immer zorniger wurden. Sie war offensichtlich daran gewöhnt.
    Ricciardi hätte nicht sagen können, ob Garofalos ehemaliger Kollege für den Doppelmord verantwortlich war. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass ein Schuldiger gewöhnlich nicht sagte, es tue ihm leid, die Straftat nicht begangen zu haben. Lomunno schien es aber aufrichtig mitzunehmen, keine Rache geübt zu haben, die für ihn vielleicht befreiend gewesen wäre und auf die er nur aus Liebe zu seinen Kindern verzichtet hatte. Auch hatte er kein überprüfbares Alibi: eine Ausgangslage, die sonst geradewegs zur Verhaftung und, in Ermangelung anderer Verdächtiger, wahrscheinlich zur Verurteilung führen würde. Lomunno hatte sich so sehr gewünscht, den Mord zu begehen, dass er am Ende vielleicht überzeugt sein würde, tatsächlich der Schuldige zu sein.
    Die Nachforschungen, die Ricciardi und Maione anstellten, mussten also eine andere Hypothese ans Licht bringen, wenn Lomunnos Kinder nicht den einzigen noch verbliebenen Elternteil verlieren sollten. Allerdings, überlegte der Kommissar, war Lomunno ganz klar ein aggressiver Mensch voll ungezügeltem Zorn und tiefem Schmerz. Ricciardi erinnerte sich, wie er mit Wucht das Messer in die Tischplatte gerammt hatte. Vielleicht war er es doch, dachte er.

    Fast ohne es zu merken, kamen sie im Fischerdorf an. Keinem der beiden Männer war aufgefallen, dass sie zwanzig Minuten lang gelaufen waren, ohne ein Wort zu wechseln.
    Das Meer tobte im Wind.

XXXVII
    Natürlich war ihnen klar, dass sie gemeldet worden waren, wie es immer geschah. Schon in der Via Partenope hatten sie bemerkt, dass sich aus einer Gruppe bettelnder Kinder ein Kurier gelöst hatte, der eilig im Fischerviertel verschwunden war.
    Maione war besorgt: Es war, als würde ihre Ankunft von Fanfaren begleitet werden.
    Nicht, dass sie Anonymität gebraucht hätten. Weder planten sie einen Überfall noch wollten sie jemanden verhaften, falls es nicht notwendig sein sollte. Aber die spontane Reaktion auf ihr Erscheinen zu sehen wäre ein Vorteil gewesen, wenn auch nur ein sehr kleiner. Sie waren es mittlerweile gewohnt, darauf zu

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