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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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drückte. Er glühte. Schon wieder.
    Nur ein paar Meter vom Haus entfernt brauste immer noch das Meer, aber der Geruch, der in der Luft lag, war anders geworden. Die Alten hatten gesagt, der Nordwind würde in den nächsten Stunden nachlassen und nur die Kälte würde übrig bleiben.
    Für Vincenzino war das keine gute Nachricht. Seine Lunge pfiff, wenn er nachts im Schlaf atmete, und Angelina tat kein Auge zu. Stattdessen lauschte sie dem Geräusch wie einem Sterbegesang.
    Der Doktor hatte ihnen gesagt, welche Arzneien sie besorgen sollten. Genauso gut hätte er ihnen Gold, Weihrauch und Myrrhe aufschreiben können, es wäre dasselbe gewesen.
    Medikamente waren für die Reichen da. Ärzte waren für die Reichen da. Oder für Diebe wie den Zenturio, der ihren Mann ruiniert hatte.
    Sie dachte an die große helle Wohnung. Daran, wie warm es dort gewesen war, als ob der Winter aus Respekt, die Kälte vor Angst draußen geblieben wären. An all die Lichter, das glänzende Silber, die spiegelblanken Böden, die weichen Teppiche, die sich anfühlten wie Sand unter den Füßen, wenn man im Sommer barfuß läuft und das Gefühl hat, auf Wolken zu wandeln.
    Sie dachte an Garofalos Frau, ihr freundliches, falsches, ironisches Lächeln. Hut und Handschuhe? , hatte sie gefragt. Ausgerechnet sie beide, die noch nie im Leben Handschuhe besessen hatten. Sie selbst trug denselben schwarzen Schal um den Kopf, der schon ihrer Mutter gehört hatte, und Aristide die Baskenmütze, die nach Meerwasser und Schmerz roch und nach etlichen Nächten, die er auf dem Boot mit Beten verbracht hatte, für ein bisschen Fisch.
    Noch während sie an die Garofalos dachte, kam, als würden ihre schwarzen Seelen von der Hölle aus die Fäden bewegen, Alfonso, ihr ältester Sohn, herein: Mama, rief er aufgeregt, sie sind da. Sie sind draußen auf dem Platz und fragen nach uns.
    Angelina dachte an ihren Mann und an das niederträchtige, schwarze Meer, das jede Nacht versuchte, ihn an sich zu reißen, das ihnen allen aber auch zu essen gab. Sie dachte an Vincenzino, das Pfeifen seiner Lungen, das inzwischen auch tagsüber zu hören war, und an seine glühend heiße Stirn. Sie dachte an ihre Eltern, die sie Rechtschaffenheit und Aufrichtigkeit gelehrt hatten. Sie dachte ans Essen, an die Medikamente, an die Teppiche und das Silber.
    Eine Weile überlegte sie, einfach nichts zu tun: niemandem
ihren Namen zu sagen, nicht rauszugehen und die Tür nicht zu öffnen. So zu tun, als seien sie bereits alle tot, wie es sicherlich auch der Fall wäre, wenn niemand dieser bösen Geschichte ein Ende gesetzt hätte. Kurz dachte sie daran.
    Doch dann seufzte sie und stand auf. Sie nahm ihren Schal und wickelte ihn um Kopf und Körper. Sie warf einen Blick in den Wandspiegel, der einzige Luxus in dem sechs mal sechs Meter großen Zimmer, das ihre Wohnung war, und erschrak über die alte, blasse Frau darin. Dann ließ sie den Blick über die erloschene Feuerstelle gleiten, über das gefährlich nah an Vincenzinos Bett gerückte Kohlenbecken, das dort stand in der Hoffnung, ihn vor dem drohenden Tod zu bewahren, und über die kleine traurige Krippe, die Aristide geschnitzt und mit trockenen Algen geschmückt hatte, damit auch für seine Kinder Weihnachten sein sollte.
    Sie schaute genau hin, sah jedoch keine Hoffnung.
    Also trat sie hinaus in den Wind und ging den Polizisten entgegen.

XXXVI
    Der Weg vom Präsidium bis zum Viertel der Fischer war nicht weit, doch er bot wunderschöne Ansichten.
    Man ging am Königspalast entlang mit dem Laubengang der Kirche des heiligen Franziskus, der die Piazza del Plebiscito begrenzte. Von dort aus bog man in die Via Cesario Console, die hinunter zum Meer führte. Rechts standen die großen Luxushotels, davor warteten die Droschken. Die Fahrer standen im Wind und rauchten, hielten sich mit der Hand den Hut fest und unterhielten sich schreiend. Gegenüber war wieder
um das Meer, dessen Gischt bis auf die Straße spritzte, sodass sich die vorbeifahrenden Autos und Kutschen in der Mitte der Fahrbahn hielten und der Gegenverkehr fast auf den Bürgersteig ausweichen musste.
    Das riesige Kastell zeichnete sich im Abendlicht dunkel und unheimlich ab. Bei solchem Wetter wirkte es mit seinen Kanonen und Mauerzinnen weniger bedrohlich und wurde vielmehr zum Schutz, da es den Wind aus den Gässchen des Viertels fernhielt.
    Die letzten Fischer waren vor über hundert Jahren von Santa Lucia in die eigens für sie gebauten niedrigen Wohnhäuser

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