Die Gabe des Commissario Ricciardi
ungebildete Mutter und Hausfrau.
Sie erinnerte sich an ihr Leben bis vor ein paar Monaten. Falls man das Leben nennen konnte. Tag und Nacht hatte sie fast ausschließlich im Bett verbracht, ohne je tief zu schlafen, in einem Zustand fortwährenden Halbschlafs, der von Bildern,
unterbrochenen Gedanken, Erinnerungen bevölkert war. Wenn eine Mutter von heute auf morgen einen Sohn verliert, dessen Hemden noch zum Bügeln bereitliegen und dessen Lachen ihr noch in den Ohren klingt, ist unklar, was mit ihr passieren wird.
Sie hantierte weiter in der Küche. Die Kinder spielten nebenan. Auch sie sind meine Kinder, hatte sie sich gesagt. Sie haben Anspruch auf eine Mutter.
Dieses Argument hatte leider fast drei Jahre lang nicht gereicht. Selbst ihr Mann oder die Wohnung schienen ihr keine hinlänglichen Gründe zu sein, das Leben wiederaufzunehmen. Das Einzige, was sie tun wollte, war das Stückchen Himmel zu betrachten, das man von ihrem Bett aus sah, und darauf zu warten, dass ein blonder Engel vorbeikommen und sie mit sich nehmen würde.
Dann, eines Tages, war sie plötzlich aufgestanden. Vielleicht war es die Frühlingsluft gewesen, ein neuer Duft, eine Art Aufbruchsstimmung. Sie hatte sich ans Fenster gestellt und herausgeschaut. Den kleinen Platz hatte sie gesehen, die schmalen Gässchen, die hoch und runter führten. Sie hatte das Leben gesehen, das wie sonst seinen Lauf nahm, und auf einmal Sehnsucht danach gehabt.
Gerade noch rechtzeitig, dachte sie, während sie verschiedene Zutaten auf dem Tisch aufreihte. Sie war Gefahr gelaufen, ihren Mann zu verlieren und die Liebe der Kinder. Um ein Haar wäre sie allein geblieben in der Hölle eines nie endenden Schmerzes. Doch dann hatte sie begriffen, dass ihr hübscher blonder Junge, der sie, wenn er nach Hause kam, stets in den Arm genommen und herumgewirbelt hatte, bis sie ganz außer Atem war, und sie »meine Süße« nannte, sie auf keinen Fall in
jenem Zustand hätte sehen wollen. Also hatte sie sich gekämmt und ein neues Kleid angezogen. Und im Schlafzimmerspiegel ein unsicheres Lächeln ausprobiert.
Von da an hatte sie nach und nach alle Familientraditionen wieder eingeführt. Und jetzt, da Weihnachten vor der Tür stand, wurde von ihr das beste Essen des Viertels erwartet; ihr Mann und ihre Kinder waren immer von allen Freunden um ihre Kochkünste beneidet worden.
Die Hände in die Hüften gestützt und mit umgebundener Schürze begutachtete sie, was sich vor ihr auf dem Tisch befand: Verschiedene Sorten Fleisch, Wurst und Speck, viel frisches Gemüse, eine scharfe Peperoni und ein Glas Rotwein – also alles, was man zu einer guten Hochzeitssuppe brauchte. In ihrer Schlichtheit war sie eines der schwierigsten Gerichte des Jahres – doch was wäre Weihnachten ohne sie?
Lucia lächelte, weil sie an Raffaele denken musste, der verrückt nach ihrer Hochzeitssuppe war. Dann allerdings trübte sich ihr Lächeln.
Ihr Mann kam ihr sonderbar vor. Seine Miene hatte sich kaum wahrnehmbar verändert, es lag ein Schatten darauf, auch wenn er versuchte, es zu verbergen: Er schien traurig oder vielleicht ein wenig melancholisch zu sein. Konnte es an Weihnachten liegen, an der Erinnerung an Luca, die sie selbst ja ständig begleitete, ihren Mann jedoch ganz kalt erwischt hatte? Überall der Klang der Dudelsäcke, die das Bild des Sohnes heraufbeschworen, als er noch klein war und sich sündhaft teure Geschenke wünschte.
Aber irgendetwas passte für Lucia nicht zusammen: Der Kummer war zu plötzlich in Raffaeles Augen zu lesen gewesen und ihr genau am Samstagabend aufgefallen, als er nach Hause kam.
Die neue Ermittlung vielleicht? Sein Mitleid für das Mädchen, das auf so furchtbare Art zur Waise geworden war, wie er ihr erzählt hatte? Schon möglich. Aber irgendetwas passte ihrer Meinung nach trotzdem nicht zusammen.
Während sie den Speck auf dem Küchenbrett in kleine Würfel schnitt, erinnerte sie sich daran, wie sie im letzten Frühling kurz geglaubt hatte, Raffaele könnte sich für eine andere Frau interessieren. Es war für sie ein starker Ansporn gewesen, sich ihren alten Platz sehr schnell zurückzuerobern. Sie würde nie wieder jemandem erlauben, ihr Leben zu überschatten.
Denn das Leben war wichtig: Wenn man es verloren und wiedergefunden hatte, war es unverzeihlich, es erneut zu verlieren.
Sie konzentrierte sich auf Raffaele, während sie sang und weiter Speck schnippelte.
Angelina spürte Vincenzinos Fieber, als sie ihm die Lippen auf die Stirn
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