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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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brachte die Zuschauer mühelos zum Lachen oder Weinen; der jüngere Bruder hatte einen instinktiven, untrüglichen Sinn für Humor und war trotz seiner Jugend in der Lage, das Publikum in heftiges Gelächter ausbrechen zu lassen; der ältere Bruder, der Leiter der Truppe und Autor des aktuellen Stückes, galt als Genie der Schauspielkunst, allerdings auch als sehr schwieriger Charakter.
    Ricciardi hatte Livia gefragt, warum eine Premiere an einem so ungewöhnlichen Datum, zwei Tage vor Weihnachten, stattfand. Und sie hatte geantwortet, genau das sei ja das Schöne daran: In der Komödie, einem Einakter, ging es darum, wie Weihnachten in einer Bürgerfamilie der Stadt verbracht wurde.
    Livia war aufgeregt, doch nicht wegen der Theatervorstellung: Es war ihr gelungen, einen für gesellschaftliche Vergnügungen so unempfänglichen Mann für eine gemeinsame Unternehmung zu gewinnen, und seine Bereitschaft dazu, auch wenn sie ihn natürlich sehr gedrängt hatte, rührte sie. Er war hier, mit ihr, an ihrer Seite. Das genügte ihr – zumindest für diesen Abend.
    Als sie ihre Plätze einnahmen, zogen sie sehr viele neugierige Blicke auf sich. Livias exotische Schönheit und ihre bedeutenden Freundschaften hatten sie in Neapel in den Mittelpunkt des Klatsches der vornehmen Gesellschaft gerückt. In allen Salons fragte man sich, warum eine solche Frau keinen Mann oder doch wenigstens ein paar Liebhaber hatte, da viele Ver
ehrer sie sehr aufdringlich umwarben. Und je mehr Einladungen sie höflich ablehnte, desto größer war die Zahl der Männer, die ihr Blumen und Gebäck schickten, und der Frauen, die behaupteten, sie hier und da in zweideutigen Situationen gesehen zu haben.
    Sie in Begleitung anzutreffen war daher ein wahres Schauspiel im Schauspielhaus. Und dann war ihr Begleiter auch noch so ein merkwürdiger Kerl, den niemand in der Gesellschaft je gesehen hatte und dessen Namen man nicht kannte. In seiner Alltagskleidung, absurderweise ohne Hut, mit verstörtem Ausdruck und argwöhnischem Blick, erregte er große Neugier. Man glaubte, er komme von außerhalb, vielleicht aus Rom, und sei folglich eng mit dem Regime verbunden. Seine sonderbaren grünen Augen, die aus dem schmalen Gesicht hervorstachen, flößten einem auch eine unbestimmte Furcht ein, als ob der Mann Dinge sehen könnte, die die anderen nicht sahen.
    Das Theaterstück war lustig und sogar Ricciardi, müde und von etlichen Gedanken abgelenkt, lächelte an manchen Stellen und war an anderen gerührt. Einige Aspekte führten ihn außerdem zurück zu seinen derzeitigen Ermittlungen, wie etwa die ständigen Verweise auf die Krippe: Es war ein weiterer Beweis dafür, wie wichtig die plastische Darstellung der Geburt Jesu den Leuten in Neapel war.
    Der Kommissar dachte an das, was Don Pierino ihm in dem schweren Weihrauchduft der Kirche von San Ferdinando gesagt hatte: Jede Figur, jedes Bauwerk ist ein Symbol. Nichts ist zufällig, alles hat seine Bedeutung. Er dachte, dass so vielleicht auch die ganze Stadt war, die er sich vom Piazzale San Martino aus gesehen vorstellte: Tausende kleine erleuchtete Fenster, die scheinbar gleich aussahen, doch jedes mit einer eigenen Geschichte, einer eigenen Familie und ihrer Tragödie.
    Im Grunde, überlegte er, ist diese Stadt nichts anderes als eine Krippe, die das ganze Jahr über besteht. Eine riesige lebende Krippe, in der es von Liebe, Hunger, Hass und Groll wimmelt, die sich, so gut es geht, vor Hitze und Kälte schützt und darüber nachdenkt, wie sie ihre schlimmen Verhältnisse verbessern kann. Eine Krippe, deren Hirten zu allem bereit sind.
    Eine Krippe, deren einen, großen Teil nur er sehen konnte: den Teil nämlich, der aus den Schreien jener bestand, die aus dem Leben herausgerissen worden waren, das in all seiner Armseligkeit doch ihr einziges Gut gewesen war.
    Die Vorstellung endete mit großem Erfolg. Ricciardi fing einen feindseligen Blick auf, den sich die beiden Brüder zuwarfen, als sie auf die Bühne gerufen wurden, um den ehrlichen Applaus des Publikums entgegenzunehmen. Aber vielleicht war es ihm auch bloß so vorgekommen. Es stimmte ihn traurig, aufgrund seines Berufs zu jemandem geworden zu sein, der negative Gefühle, wie etwa Eifersucht, selbst da suchte, wo es keinen Grund dazu gab.
    Während sie dem Strom der Zuschauer folgten, die den Abend noch nicht abschließen wollten, umfasste Livia strahlend seinen Arm und versuchte, ihn zu einem gemeinsamen Abendessen zu überreden, doch er widerstand

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