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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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er auch darüber nachdachte, so wusste er doch nicht, was er da eigentlich tat.
    Er beneidete Franco Massa um seine klaren Vorstellungen: Der Junge sollte dafür zahlen, dass er das schrecklichste aller Verbrechen begangen hatte.
    Allerdings, dachte Maione, braucht es hier nicht bloß einen Polizisten. Hier wird von mir verlangt, den Polizisten, den Richter und den Henker abzugeben. Eine Sache ist's, einen Verbrecher in Ketten zu legen, eine andere, ihn leben, arbeiten und lieben zu sehen und ihm dann den Tod zu wünschen.
    Er kam bei dem Laden an, vor dem Biagio am Vortag einem bescheidenen und erstaunten Publikum seine Schnitzkünste präsentiert hatte. Um diese Uhrzeit war die Straße leer, auch wenn sie noch mit Lichtern und Weihnachtsdekoration geschmückt war, die traditionell erst nach dem Dreikönigstag entfernt wurden. Maione stellte sich in den Schatten eines Hauseingangs und beobachtete, was geschah.
    Die Türflügel des Ladens waren angelehnt. Der Eigentümer, mit dem Maione sich am Tag zuvor unterhalten hatte, stand hinter der Kasse und zählte das Geld. Er schien sichtlich zufrieden. Ein paar Meter weiter kehrte der blonde junge Mann Holzspäne vom Boden auf. Dem Brigadiere zog sich das Herz zusammen: Von Weitem und einen kurzen Augenblick lang hatte er den Mörder mit dem Opfer verwechselt. Biagios Haare hatten dieselbe Farbe wie Lucas und die seiner Frau Lucia.
    Maiones geübtes Auge sah, wie drei junge Leute sich zügig auf den Laden zubewegten, und das, noch bevor sie ins Licht der Straßenlaterne traten. Zuerst waren sie langsam gegangen, als hätten sie es nicht eilig, doch dann wurden ihre Schritte entschlossener. Der Blick des Vordersten war auf das Geld in der Hand des Ladenbesitzers gerichtet.
    Als Maione klar wurde, was nun passieren würde, sah er gerade Biagios Frau kommen, die ihr Töchterchen an der Hand und den kleinen Jungen im Arm hielt.
    Der Brigadiere blickte die Straße hoch und runter: Es war niemand unterwegs. Instinktiv wollte er einschreiten, doch er wusste, dass er sich dadurch unter solch besonderen Umständen verraten hätte. Man hätte von ihm zu Recht eine Erklärung dafür verlangt, warum er den Laden überwachte. Also zögerte er.
    Die drei Übeltäter waren bei der Ladentür angelangt: Zwei nahmen neben den Türflügeln Stellung, der dritte schickte sich an reinzugehen.
    Nun geschah alles ganz schnell: Der Eindringling zog ein Messer hervor und ging auf die Kasse zu; mit einem Satz versperrte Biagio ihm den Weg, in der Hand die Klinge, mit der er den Kopf der alten Frau geschnitzt hatte; der Mann hob sein
Messer gegen ihn, doch Biagio wich seinem Hieb aus; die junge Frau, die gemerkt hatte, was da passierte, stieß einen Schrei aus, woraufhin jemand sich aus dem Fenster lehnte; die beiden an der Tür sahen sich an und machten sich aus dem Staub.
    Maione erkannte, dass Biagio, obwohl er mit dem Messer viel geschickter umging als sein Gegner, dem anderen bloß auswich und nicht versuchte, ihn seinerseits zu verletzen. Er beschloss, genug gesehen zu haben. Sich weiter im Schatten verbergend, zog er die Pfeife heraus, mit der die Polizei ihr Kommen ankündigt, und blies fest hinein. Bei dem schrillen Ton stürzte der Räuber aus dem Laden und ergriff, so schnell er konnte, die Flucht.
    Der Ladenbesitzer zitterte wie Espenlaub und sah sich verstört um, da er sich fragte, wo die Polizisten waren, die gepfiffen hatten. Die junge Frau hatte sich weinend in die Arme ihres Mannes geworfen, der im Schein der Lichterketten totenbleich aussah. Er schleuderte das Messer weit von sich, als würde es glühen; es holperte vor der Ladentür über die Straße.
    Das Ganze hatte keine zwei Minuten gedauert.
    Plötzlich sehnte sich Maione nach seinem Zuhause. Er trat heraus aus dem Schatten und machte sich schweren Herzens auf den Heimweg.

    Ricciardi war überrascht darüber, wie viele Leute bei dieser Kälte auf den Bürgersteigen vor dem Kursaal, einem Kino und Theater in der eleganten Via Filangieri, standen. Alle wirkten gespannt und warteten: Man war sehr elegant gekleidet, lachte und rauchte, trat schlotternd von einem Fuß auf den anderen, besprach die Wetterlage.
    Im Auto hatte Livia ihm erklärt, dass die Truppe der drei
Geschwister gerade stark im Kommen war und ihr Ruf bereits bis über die Stadtgrenzen hinaus reichte. Es handelte sich bei dem Ensemble um drei sehr unterschiedliche, sich aber auf der Bühne perfekt ergänzende Personen: Die Schwester, hässlich, doch genial,

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