Die Gabe des Commissario Ricciardi
allein der Kinder wegen. Und doch: Er war so abwesend, starrte ins Leere, antwortete nicht auf Fragen – das waren deutliche Zeichen. Und Lucia ließ sich von niemandem für dumm verkaufen!
Daher rief sie ihre älteste Tochter zu sich – sie war zwar noch ein Kind, aber reif genug, um für ein Stündchen auf die jüngeren Geschwister aufzupassen – und trug ihr auf, was zu tun war. Dann nahm sie ihren Mantel, Hut und Handschuhe und verließ ebenso verstohlen wie entschlossen das Haus.
Der Tag ist erst zu Ende, wenn die Haustür ins Schloss gefallen ist, hatte ein Leitsatz seines früheren Chefs gelautet. Daran musste Ricciardi nun denken, als er im Polizeipräsidium, wo er nur vorbeiging, um nach Neuigkeiten zu fragen, auf eine strahlend lächelnde Livia in funkelnagelneuer Abendgarderobe stieß.
– Da bist du ja endlich. Ich wollte schon einen deiner Kollegen dazu anheuern, dich zu suchen. Wir könnten zu spät kommen, weißt du.
Ricciardi fiel aus allen Wolken und ärgerte sich gleichzeitig über seinen übertriebenen Arbeitseifer: Wäre er vom Hafen aus direkt nach Hause gegangen, befände er sich jetzt nicht in Schwierigkeiten.
– Zu spät? Wie meinst du das? Tut mir leid, Livia, aber ich bin wirklich müde; es war ein sehr anstrengender Tag.
Livia lächelte immer noch genauso strahlend wie zuvor. Sie war entschlossen, heute Abend auf ihre Kosten zu kommen.
– O nein, Ausreden lasse ich nicht gelten. Ich hatte weiß Gott viel Mühe, um noch zwei Karten für den Kursaal zu bekommen, und musste dafür Beziehungen spielen lassen, die ich gar nicht habe. Ich will unbedingt hin. Und du, mein Lieber, wirst mich begleiten.
– Wirklich, Livia, ich halte das für keine gute Idee. Sieh mich nur an, ich bin den ganzen Tag herumgelaufen, meine Kleider sind schmutzig und unordentlich. Du würdest dich mit mir blamieren.
Die Augen der Frau füllten sich vor Enttäuschung mit Tränen. Ihre Unterlippe zitterte; sie schaute zur Seite.
– Weißt du, ich glaube nicht, dass ich es verdient habe, von dir so schlecht behandelt zu werden. Schließlich verlange ich nichts von dir, nur, mich ins Theater zu begleiten. Das ist doch nicht viel, oder?
Ricciardi hatte nicht genügend Erfahrung, um einer der stärksten Naturgewalten entgegenzutreten: den Tränen einer Frau. Außerdem war er keineswegs schwer von Begriff, und Livia hatte ihm zwischen den Zeilen zu verstehen gegeben:
Als du mich brauchtest, war ich für dich da. Unfreiwillig dachte er an die demonstrativ geschlossenen Fensterläden von gegenüber.
Also seufzte er und sagte:
– Na gut, ich werde dich begleiten. Aber nach der Vorstellung muss ich gleich nach Hause: Morgen wartet ein langer Tag auf mich.
XLV
Ihm war klar, dass er eigentlich nach Hause gehen sollte, wo Frau und Kinder auf ihn warteten. Er hatte Hunger, und die Kälte, die in jeder Minute zunahm, drang ihm bis in die Knochen.
Und doch fand sich Brigadiere Maione zur Abendessenszeit, als die Läden ihre Türen schlossen, in San Gregorio Armeno wieder, so wie ein Nachtfalter in einer Sommernacht vom Licht angezogen wird.
Vom Fischerviertel aus war er ins Präsidium zurückgegangen, um zu sehen, ob sich etwas getan hatte. Ricciardi war noch nicht dort gewesen, aber im Hof stand der Wagen von Signora Vezzi, die ihn erwartete. Da hatte er gedacht, dass der Commissario vielleicht einmal zur Abwechslung die Gesellschaft einer schönen Frau genießen könnte, wo er doch jung und ungebunden war.
Maione hatte auf die Uhr geschaut, die in seiner Jackentasche steckte: Seine Schicht war zu Ende. Es war Zeit, nach Hause zu gehen. Den Nachhauseweg hatte er zunächst auch eingeschlagen – von der Via Toledo zur Piazza della Concordia und von dort zu Lucias blauen Augen.
Lucia. Der Gedanke an sie hatte ihn – wie ein stummer
Vorwurf – an Biagio Candela erinnert, Lucas Mörder. In dem Augenblick hatten seine Füße wie von selbst einen anderen Weg eingeschlagen: Sie waren zur Piazza Gesù gegangen und von dort durch die Via Tribunali zur Straße der Figurenmacher.
Was suchst du bloß?, fragte er sich. Was möchtest du denn sehen? Was möchtest du erfahren?
An seiner Arbeit schätzte er die Schlichtheit: Es fiel etwas Rechtswidriges vor, und er musste die Verantwortlichen finden, damit sie dafür bestraft wurden. Das war leicht. Diesmal jedoch kam er sich vor wie in einem Labyrinth, dazu verdammt, unentwegt im Kreis zu laufen, auf der Suche nach einem Ausweg, den es vielleicht gar nicht gab. Wie sehr
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