Die Gabe des Commissario Ricciardi
Commissario, da sind Sie ja. Ihr Besuch ist diesmal gar nicht angekündigt worden, wie kommt's?
Ricciardi verzog das Gesicht zu etwas, das fast ein Lächeln hätte sein können.
– Guten Abend, Herr Konsul. Dazu hätte man meine Gedanken lesen müssen. Ich habe erst vor zwei Minuten beschlossen, bei Ihnen reinzuschauen.
Freda lachte amüsiert.
– Da haben wir's: die einzige Art, einer Meldung zu entgehen. Was kann ich für Sie tun? Wie laufen die Ermittlungen?
– Nicht sehr gut. Wir verfolgen immer noch mehrere Fährten. Leider – oder vielleicht zum Glück – reicht es nicht, dass jemand ein vortreffliches Tatmotiv hat, um die Tat auch wirklich zu begehen.
Der Konsul ließ sich in seinen Lehnstuhl fallen.
– Verstehe. Ich bin mir der Schwierigkeiten durchaus bewusst; bestimmte Umstände sind nicht leicht zu interpretieren.
Ricciardi beugte sich ein wenig vor.
– Herr Konsul, ich muss Sie etwas fragen. Und zwar inoffiziell, so wie ich heute Abend auch nicht offiziell hier bin. Aus welchem Grund haben Sie uns auf Lomunnos Fährte geführt? Als wir neulich hier waren, haben Sie dafür gesorgt, dass wir Andeutungen und Hinweise auf das erhielten, was damals geschehen war, und erfuhren, weshalb Lomunno aus der Miliz geworfen und Garofalo befördert worden war. Warum?
Freda blickte zum Fenster, obwohl es draußen dunkel war. Er schien lange über die Antwort nachzudenken.
– Als wir von Garofalos tragischem Ende erfahren haben, haben wir alle hier an Lomunno gedacht. Sie werden zugeben, dass er sehr triftige Beweggründe hatte, um … den Mord zu begehen. Und diejenigen von uns, die ihn, nicht offiziell natürlich, getroffen hatten, als er aus dem Gefängnis herauskam, haben von einem Mann erzählt, den Zorn und Schmerz völlig verbittert hatten: Seine Frau war tot, seine Karriere beendet, und die Bedingungen, unter denen er mit seinen Kindern lebte, erbärmlich. Damit wir uns richtig verstehen, Commissario: Niemand von uns hat auch nur den kleinsten Hinweis auf seine Schuld; aber es hätte gepasst, wenn es Lomunno gewe
sen wäre. Andererseits kennt man sich natürlich hier drinnen, wenn man so eng zusammenarbeitet. Und Lomunno mochten alle, im Gegensatz zu Garofalo.
Ricciardi wartete.
– Daraus folgt?
– Folglich, – fuhr der Konsul fort, – haben wir es vorgezogen, dass Sie die Angelegenheit von uns erfahren und nicht aus den Gerichtsakten oder durch die üble Nachrede der Leute. Das ist alles.
Ricciardi dachte schnell nach: Er musste unbedingt wissen, ob der Konsul und somit die Miliz Garofalo im Verdacht hatten, noch andere krumme Dinger gedreht, etwa die Fischer erpresst zu haben. Die Ermittlungen in Lomunnos Richtung zu lenken hätte der Versuch sein können, einen etwaigen weiteren Schandfleck zu vertuschen.
– Unsere Ermittlungen haben bisher kein zweites Tatmotiv ans Licht gebracht, etwas, das jemand anderen dazu bewegt haben könnte, die beiden Garofalos zu töten. Im Moment ist Lomunno also der einzige Verdächtige.
Freda sah aus, als würde er das aufrichtig bedauern.
– Dann suchen Sie bitte weiter. Wir alle hier sind überzeugt, dass Lomunno schon genug für seinen Fehler bezahlt hat, der letztendlich nur darin bestand, sich einem treulosen Untergebenen anzuvertrauen. Wir glauben nicht, dass er es war. Ich möchte Sie gern um etwas bitten, und zwar weder als Oberbefehlshaber der Legion noch als ehemaliger Marineoffizier, sondern als Mensch und Vater: Sorgen Sie dafür, dass es gegen Lomunno nur dann zur Anklage kommt, wenn Sie wirklich davon überzeugt sind, dass nur er es gewesen sein kann.
Ricciardi blickte Freda lange ins Gesicht und sah ein, dass
er über Garofalos Leben nicht mehr wusste, als er zugab. Es wurde ihm auch klar, dass eine Menge Leute in der Kaserne über eine Anklage der Boccias erfreut gewesen wären.
– In Ordnung, ich verspreche es Ihnen. Wir werden weitersuchen. Bisher haben wir allerdings nichts in der Hand. Sollte Ihnen noch etwas einfallen oder etwas anderes ans Licht kommen, dann lassen Sie mich bitte unbedingt rufen.
Zum zehnten Mal ging sie nun schon ins Wohnzimmer, um auf die alte Standuhr zu schauen, die geräuschvoll das Vorrücken der Zeit anzeigte. Lucia Maione war nervös, und jede verstrichene Sekunde verstärkte ihre Unruhe.
Natürlich waren da die Ermittlungen. Und ganz sicher waren die ersten Tage am wichtigsten. Gewiss durfte man bei keiner Fährte lockerlassen. Und auch sie wollte schließlich eine sichere Welt ohne Mörder, schon
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