Die Gärten des Mondes
Straße hin und her wogte.
Sie hatte noch zwei Aufgaben zu erfüllen, dann würde sie diese Stadt wieder verlassen. Eine dieser Aufgaben mochte sich allerdings als undurchführbar erweisen. Sie konnte Leida nicht spüren. Vielleicht war die junge Frau wirklich tot. Unter den gegebenen Umständen war dies die einzige Erklärung.
Sie betrachtete das Meer der Gesichter, das an ihr vorbeiflutete. Der unterschwellige Wahnsinn, der hier herrschte, bereitete ihr Unbehagen, vor allem, da sich die Stadtwachen überaus zurückhaltend verhielten. Sie wunderte sich über den Anflug von Entsetzen in all diesen Gesichtern und darüber, wie viele von ihnen so vertraut wirkten.
Vor ihrem geistigen Auge verschwamm Darujhistan, wurde zu hundert anderen Städten, die wie bei einer Parade nacheinander aus ihrer Erinnerung aufstiegen. Freude und Furcht, Schmerz und Lachen - die verschiedenen Ausdrücke vermischten sich zu einer einzigen Miene, die Geräusche waren nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Sie konnte keine Einzelheiten mehr erkennen, die Gesichter wurden ausdruckslos, die Geräusche zu einem Aufschrei der Geschichte ohne jede Bedeutung.
Lorn fuhr sich mit einer Hand über die Augen, trat einen Schritt zurück und taumelte in die Schatten der Gasse hinter ihr. Sie ließ sich an einer Mauer hinunterrutschen und kauerte sich nieder. Ein Fest der Bedeutungslosigkeit. Ist das alles, was am Ende bleibt? Hör ihnen doch nur zu! In wenigen Stunden würden die Kreuzungen der Stadt in die Luft fliegen. Hunderte von Menschen würden augenblicklich sterben, tausende später. Und irgendwo in all dem Durcheinander aus verstreuten Pflastersteinen und eingestürzten Häusern würden diese Gesichter sein, deren Ausdruck irgendwo zwischen Freude und Furcht erstarrt war. Und die Sterbenden würden Geräusche von sich geben, würden Schreie der Hoffnungslosigkeit aussto- ßen, die verstummen würden, wenn der Schmerz vorbei war.
Sie hatte sie alle schon einmal gesehen, alle diese Gesichter. Sie kannte sie alle, kannte den Klang ihrer Stimmen, kannte den Klang, der in menschlichen Emotionen versunken war, ebenso wie jenen, der klares, reines Denken verriet, und den, der in den Abgründen zwischen diesen beiden Extremen hin und her schwankte. Ist dies mein Vermächtnis?, fragte sie sich. Eines Tages werde auch ich eines von diesen Gesichtern sein, erstarrt im Tod und Staunen.
Lorn schüttelte den Kopf, doch es war nur eine matte Anstrengung. Mit plötzlicher Klarheit begriff sie, dass sie kurz vor einem Zusammenbruch stand. Die Mandata zerbrach, ihre Rüstung zerbröckelte und der Glanz der marmornen Grandeur verging. Ein Titel, der so bedeutungslos war wie die Frau, die ihn trug. Die Imperatrix -nur ein weiteres Gesicht, das sie schon früher einmal irgendwo gesehen hatte, eine Maske, hinter der sich jemand vor der Sterblichkeit verbarg.
»Es ist sinnlos, sich zu verbergen«, flüsterte sie und betrachtete stirnrunzelnd das welke Laub und das Reisig um sich herum.
Ein paar Minuten später richtete sie sich wieder auf. Sorgfältig klopfte sie den Schmutz von ihrem Umhang. Eine Aufgabe gab es noch, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten lag. Sie konnte den Träger der Münze finden, ihn töten und ihm Oponns Münze abnehmen. Sie konnte dafür sorgen, dass der Gott für seine Einmischung in die Angelegenheiten des Imperiums bezahlte - die Imperatrix und Tayschrenn würden dafür sorgen.
Die Aufgabe erforderte einige Konzentration; sie musste alle ihre Sinne auf eine ganz besondere Signatur lenken. Es würde ihre letzte Tat sein, das wusste sie. Doch sie würde Erfolg haben. Zu scheitern und dabei den Tod zu finden war undenkbar. Lorn wandte sich der Straße zu. Die Dämmerung kroch heran und hüllte die Menge ein. Weit im Osten war Donner zu hören, doch die Luft war trocken, ohne das geringste Anzeichen von Regen. Sie überprüfte ihre Waffen. »Die Mission der Mandata«, sagte sie leise, »ist beinahe erfüllt.«
Sie trat hinaus auf die Straße und tauchte in der Menge unter.
Kruppe erhob sich von seinem Tisch im Phoenix und versuchte, den letzten Knopf seiner Weste zu schließen. Es gelang ihm nicht, also entspannte er seinen Bauch wieder und stieß einen müden Seufzer aus. Nun, zumindest war der Mantel gereinigt worden. Er zupfte an den Manschetten seinen neuen Hemdes und verließ das fast leere Gasthaus.
Er hatte die letzte Stunde über still an seinem Tisch gesessen, und für alle Umstehenden musste es so ausgesehen haben, als
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