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Die Gärten des Mondes

Die Gärten des Mondes

Titel: Die Gärten des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Erikson
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durchgearbeitet, um schließlich bei der letzten Karte anzukommen, die entweder einen Scheitelpunkt oder eine göttliche Erscheinung bedeuten konnte, je nachdem, wie diese Karte sich selbst einordnete.
    Die Spirale war zu einem Abgrund geworden, einem Tunnel, der abwärts führte, und an seinem Grund, weit entfernt und schattenverhüllt, wartete das Bild eines Schattenhundes. Eine seltsame Unmittelbarkeit war dieser Deutung zu Eigen. Das Hohe Haus Schatten war jetzt beteiligt, eine Herausforderung für Oponn, denn bisher hatten die Zwillinge das Spiel beherrscht. Ihr Blick wurde von der Karte angezogen, die sie am Anfang der Spirale als Erste gelegt hatte. Der Steinmetz des Hohen Hauses Tod besaß im Allgemeinen nur eine niedere Stellung, jetzt jedoch schien die aus dem Holz herausgearbeitete Figur zu einer außergewöhnlichen Position aufgestiegen zu sein. Er war der Bruder des Soldaten des gleichen Hauses und sah aus wie ein schlanker, ergrauender Mann, der in ausgeblichenes Leder gekleidet war. Seine massigen, von dicken Adern überzogenen Hände hielten Steinmetzwerkzeuge, und um ihn herum erhoben sich roh bearbeitete Menhire. Flickenseel stellte fest, dass sie undeutliche Glyphen auf den Steinen erkennen konnte; die Sprache war ihr nicht vertraut, doch die Schrift erinnerte an die, die im Reich der Sieben Städte gebräuchlich war. Im Haus Tod war der Steinmetz der Erbauer von Hügelgräbern, der Steineaufsteller; er verkörperte die Aussicht auf den Tod nicht nur einer oder weniger, sondern vieler Personen. Die Sprache auf den Menhiren enthielt eine Botschaft, die nicht für sie, Flickenseel, gedacht war. Der Steinmetz hatte diese Worte für sich selbst eingemeißelt, und der Lauf der Zeit hatte die Buchstaben abgewetzt; sogar der Mann selbst wirkte wettergegerbt, sein Gesicht war von Falten übersät, sein silberner Bart lang und wirr. Die Rolle des Steinmetz wurde von einem Mann ausgefüllt, der einst mit Stein gearbeitet haben mochte, es aber jetzt schon längst nicht mehr tat.
    Die Zauberin hatte Schwierigkeiten, dieses Feld zu verstehen.
    Das Muster, das sie sah, überraschte sie: es war, als hätte ein ganz neues Spiel begonnen, bei dem ununterbrochen neue Spieler das Spielfeld betraten. Genau in der Mitte der Spirale, von ihrem Anfang wie von ihrem Ende gleich weit entfernt - und in dieser Position zu beiden im Gegensatz stehend - befand sich der Ritter des Hohen Hauses Dunkel. Und wie beim letzten Mal, als das Spiel seine Gestalt enthüllt hatte, schwebte etwas am tintigen Himmel hinter dem Ritter, etwas, das so schwer fassbar war wie immer; manchmal schien es ihr sogar nur ein dunkler Fleck auf ihrer eigenen Netzhaut zu sein.
    Das Schwert des Ritters sandte einen schwarzen, rauchigen Streifen auf den Hund zu, der sich am Scheitelpunkt der Spirale befand, und in diesem Augenblick begriff sie, was das bedeutete. Es würde einen Kampf zwischen dem Ritter und dem Hohen Haus Schatten geben. Der Gedanke erschreckte Flickenseel, doch er weckte in ihr auch ein Gefühl der Erleichterung. Es würde zu einer Konfrontation kommen. Es würde kein Bündnis zwischen den Häusern geben. Eine so klare und direkte Verbindung zwischen zwei Häusern war nur selten zu erkennen. Ihr wurde kalt, als sie an die Verwüstung dachte, die dieser Kampf nach sich ziehen mochte. Wenn auf einer so hohen Stufe der Macht Blut vergossen wurde, würden Nachbeben die ganze Welt erschüttern. Es war unvermeidlich, dass dabei Menschen zu Schaden kommen würden. Dieser Gedanke brachte sie zurück zum Steinmetz des Hohen Hauses Tod. Ihr Herz klopfte heftig. Sie zwinkerte sich den Schweiß aus den Augen und holte ein paar Mal tief Luft.
    »Blut fließt immer nach unten«, murmelte sie. Der Steinmetz errichtet ein Hügelgrab - schließlich ist er ja der Diener des Todes -, und er wird mich direkt berühren. Dieses Grab ... ist es mein Grab ? Soll ich mich zurückziehen? Soll ich die Brückenverbrenner ihrem Schicksal überlassen und vor Tayschrenn, vor dem Imperium fliehen?
    Eine Erinnerung stieg in ihr auf, die sie beinahe zwei Jahrhunderte lang unterdrückt hatte. Das Bild erschütterte sie. Noch einmal ging sie die schlammigen Straßen des Dorfes entlang, in dem sie geboren worden war, ein Kind mit einer Gabe, ein Kind, das gesehen hatte, wie die Reiter des Krieges in das behütete dörfliche Leben geritten kamen. Ein Kind, das vor dem Wissen davongelaufen war, ohne irgendjemandem etwas zu sagen - und dann war die Nacht gekommen, eine Nacht

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