Die galante Entführung
erreichen. Wenn nicht Mr. Ancrum gewesen wäre, der mir seinen Arm lieh, wäre es mir sehr wahrscheinlich nie gelungen.«
Sie war sichtlich außer sich. Abby tat, was sie konnte, um ihre Erregung zu beschwichtigen, aber es sollte schlimmer kommen. Jenes Weib (unter welchem Titel Abby unschwer die gräßliche Mrs. Ruscombe erkannte) hatte die Frechheit gehabt, zu Selina zu kommen, um sie mit ihrem falschen, honigsüßen Lächeln wegen der demütigenden Enttäuschung der armen kleinen Fanny zu bemitleiden. Und in der Verzweiflung des Augenblicks war sie, Selina, nicht imstande gewesen, ein einziges Wort zerschmetternder Erwiderung herauszubringen. Es war ihr nichts eingefallen!
Leider fielen ihr in den folgenden Tagen nur allzu viele Erwiderungen ein, und wann immer sie allein mit Abby war, erinnerte sie sich genau, was Mrs. Ruscombe gesagt hatte, und fügte der Episode die verschiedenen vernichtenden Dinge hinzu, die sie selbst hätte sagen können, und erinnerte Abby an die zahlreichen Gelegenheiten, als sich Mrs. Ruscombe abscheulich benommen hatte. Sie konnte an nichts anderes denken, und als sie an einem einzigen Abend zum drittenmal ein brütendes Schweigen brach und sagte, als seien sie mitten in einem Gespräch: »Und noch etwas…!«, ließ Abby die Geduld im Stich, und sie rief aus: »Um Himmels willen, Selina, fang nicht wieder an! Als sei es nicht schlimm genug, daß Fanny dutzendmal am Tag sagt: Wenn es bloß zu regnen aufhörte! Wenn du mich nicht hysterisch machen willst, hör endlich auf, von Mrs. Ruscombe zu reden! Was sie dir sagte, kenne ich auswendig. Und was du ihr hättest sagen können, so weißt du sehr gut, daß du so etwas nie sagen würdest.«
Sie bereute es natürlich sofort, ja sie war entsetzt, daß sie ihre Beherrschung verloren hatte. Sie bat Selina um Entschuldigung und sagte, wahrscheinlich sei sie übermüdet.
»Ja, Liebe, zweifellos mußt du das sein«, sagte Selina. »Es ist ein Jammer, daß du dich nicht ausruhen willst, wie ich es dir ja wiederholt empfohlen habe.«
Selina war nicht beleidigt, o Himmel, nein! Nur ein bißchen verletzt, aber sie wollte nicht mehr darüber reden. Sie war überzeugt, Abby habe sie nicht verletzen wollen, es war nur, daß ihr ein bißchen Empfindsamkeit abging, aber auch darüber wolle sie nichts mehr sagen.
Das tat sie auch nicht, aber ihr Schweigen darüber und über jedes andere Thema war sprechend genug und sorgte dafür, daß sich Abby leidenschaftlich danach sehnte, daß Miles Calverleigh zurückkäme und sie ohne viel Federlesens aus dem schwer heimgesuchten Haushalt herausreiße.
Es war jedoch nicht Miles Calverleigh, der eines Tages kurz vor Mittag am Sydney Place auftauchte. Mr. James Wendover kam, mit einer kleinen Reisetasche und dem grollenden Ausdruck eines Mannes, der durch das rücksichtslose Benehmen seiner Verwandten gezwungen war, die Unbequemlichkeiten einer nächtlichen Reise nach Bath in der Postkutsche zu ertragen.
Fanny, die trostlos am Fenster im Salon saß, erblickte ihn zuerst. Als die Mietdroschke vorfuhr, wallte in ihrer Brust einen ekstatischen Augenblick lang die Hoffnung auf, daß die Kutsche endlich Stacy Calverleigh zu ihr brachte. Beim Anblick der mageren, nüchtern gewandeten Gestalt des Mr. Wendover sank diese Hoffnung jedoch schnell wie ein Bleigewicht. Fanny rief so laut aus, daß Abby zusammenfuhr: »Mein Onkel! Nein, nein, ich will nicht, ich kann nicht! Laß ihn mir nicht in die Nähe kommen!«
Mit diesen höchst erregten Worten stürzte sie aus dem Zimmer und überließ es Abby, sie so gut wie möglich zu entschuldigen.
Vorher gewarnt, verriet Abby weder Beunruhigung noch Erstaunen, als gleich darauf Mr. Wendover das Zimmer betrat, obwohl sie sagte: »Nun, das ist eine Überraschung, James! Was führt wohl dich nach Bath?«
Er schenkte ihr einen oberflächlichen Begrüßungskuß auf die Wange und antwortete ätzend: »Ich muß annehmen, daß du sehr gut weißt, was mich hergeführt hat, Abby! Ich darf hinzufügen, daß es höchst unbequem – wirklich höchst unbequem! – war. Aber da du anscheinend verrückt geworden bist, habe ich mich gezwungen gesehen, die Reise zu unternehmen! Wo ist Selina?«
»Wahrscheinlich bei der Trinkkur in der Halle«, antwortete Abby ruhig. »Sie wird vermutlich gleich hier sein. Bist du mit der Post gekommen? Wieso mit Verspätung?«
»Sie hatte keine Verspätung. Ich bin pünktlich um zehn Uhr in Bath angekommen und habe bereits einen Teil meiner Mission erledigt.
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