Die galante Entführung
sie als eine andere. Das jedoch wollte er mit Billigung ihrer Tanten tun; und da ihm schon die Eroberung Selinas gelungen war, hatte er auf einen ähnlichen Erfolg bei Abigail gehofft. Fünf Minuten in ihrer Gesellschaft hatten jedoch genügt, seinen diesbezüglichen Optimismus zunichte zu machen: Abigail war aus härterem Stoff geformt als ihre Schwester, und sie hatte sich offen gegen ihn gestellt. Wahrscheinlich war James Wendover schuld daran. Vielleicht konnte der Einfluß eines anderen Mannes vorteilhaft eingesetzt werden. Sie schien mit Miles auf freundschaftlichem Fuß zu stehen; das machte es wünschenswert, sich unverzüglich Miles’ Unterstützung zu sichern.
Als er daher am selben Abend an dem Ball in den Upper Rooms teilnahm und entdeckte, daß sein Onkel anwesend war und mit Mrs. Grayshott sprach, ergriff er die erste sich bietende Gelegenheit, ihn mit allen Anzeichen der Freude zu begrüßen. Er war erleichtert, als er sah, daß Miles doch zumindest Kniehosen und einen Frack besaß, aber es juckte ihn in den Fingern, eine Krawatte zu arrangieren, die er jammervoll fand, und die rabenschwarzen Locken seines Onkels in modernem Stil zurechtzubürsten. Seine eigenen waren wunderschön mit Pomade behandelt und zu einer kühnen Brutusfrisur gelegt worden. Seine Jacke saß knapp an seiner hübschen Figur; ein Anhänger baumelte an seiner Taille; ein Monokel hing um den Hals; der feine Duft von Steeks Lavendelwasser umschwebte ihn, und eine Diamantnadel nistete in den Falten seiner Krawatte im Orientstil. Er hatte, wie Lady Weaversham zu Mrs. Slinford bemerkte, tatsächlich den unverkennbaren Londoner Hauch an sich. Mrs. Slinford stimmte Ihrer Gnaden zu und sagte, ihrer Meinung nach sei er der eleganteste aller anwesenden Herren. Mrs. Ruscombe hingegen, die das hörte, sagte mit ihrem seichten Lachen: »Oh, meinen Sie wirklich? So ein Tändler! Mein Mann – wie schlimm von ihm! – nannte ihn einen Geck.«
Da jedoch jedermann wußte, daß es Mrs. Ruscombes Brauch war, nicht nur ihre verheerend kritischen Äußerungen immer ihrem sanften Eheliebsten in den Mund zu legen, sondern daß sie sich auch alle Mühe gegeben hatte, die älteste ihrer fünf Töchter Mr. Stacy Calverleigh in den Weg zu stellen, wurde diese Bemerkung mit eisigem Schweigen aufgenommen. Wenn Mr. Stacy Calverleigh für jedermanns Geschmack auch viel zu geschniegelt sein mochte, ein Geck war er nicht. Er stolzierte weder herum, noch spielte er sich als Stutzer auf. Seine Manieren waren angenehm, so daß selbst die kritischesten unter den älteren Herrschaften zugeben mußten, daß er sich wirklich nett benahm.
Als Miss Abigail Wendover als Anstandsdame ihrer reizenden Nichte eintraf, bemerkte man, daß sie wieder eines ihrer Londoner Kleider trug. Ihre Freunde stimmten überein, daß sie glänzend aussah. Mrs. Ruscombe äußerte die Ansicht, es sei leicht, vorteilhaft auszusehen, wenn man bereit war, ein Vermögen auf sich zu verschwenden.
Das war übertrieben eingeschätzt, da Abby jedoch in behaglichen Vermögensverhältnissen lebte, brauchte sie nicht zu sparen und hatte nicht gezögert, ein kostspieliges Abendkleid aus Spitze über einem Seidenunterkleid zu erstehen, das in weichen Falten bis zum Boden fiel und in einer Halbschleppe endete. Dies ebenso wie die Diamantenagraffe im Haar besagte für die Wissenden, daß sie nicht die Absicht hatte, zu tanzen. Mr. Miles Calverleigh gehörte nicht zu den Eingeweihten. Er ging sofort auf sie zu und bat um die Ehre, sie in der Gruppe zu führen, die sich eben bildete.
Sie lächelte, schüttelte jedoch den Kopf und sagte: »Danke, aber ich tanze nicht.«
»Das freut mich«, sagte er. Als sie überrascht und amüsiert zu ihm aufsah, lachte er und fügte hinzu: »Ich bin nämlich ein furchtbar schlechter Tänzer. Darf ich mich statt dessen neben Sie setzen und mit Ihnen plaudern?«
»Bitte«, antwortete sie. »Ich hoffte auf die Gelegenheit, mit Ihnen zu sprechen. Haben Sie schon Ihren Neffen kennengelernt?«
»Ja, er war so zuvorkommend, mich heute zu besuchen.«
»Was denken Sie über ihn?« fragte sie.
»Nichts. Muß ich mir etwas denken?«
»Ich wollte, Sie wären nicht so aufreizend!«
»Ich möchte Sie um nichts in der Welt reizen. Aber was soll ich denn sagen? Er war keine ganze Stunde bei mir, und ich kann mich an nichts von dem erinnern, was er sagte und was mich so interessiert hätte, daß ich über ihn nachgedacht hätte.«
»Sie sind ein höchst unnatürlicher Onkel!«
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