Die galante Entführung
Meinung, daß es sie nichts anging. Auch wünschte sie nicht zu wissen, wieviele Geliebte er gehabt oder welche Ausschweifungen er begangen hatte; die Vergangenheit mochte ihre Geheimnisse bewahren und ihr das Vergnügen an der Gegenwart belassen.
Wenn sie einen Gedanken an ihre Nichte übrig hatte, der sie tadelnswerterweise erlaubt hatte, ihrer Hut zu entrinnen, so war es nur die Hoffnung, daß Fanny den Tag ebensosehr genoß wie sie. Das Kind war zu Beginn des Ausflugs nicht gut gelaunt gewesen. Fanny hatte es hinter einer betonteren Lebhaftigkeit als üblich zu verbergen gesucht, aber ihre Heiterkeit hatte etwas Sprödes an sich. Abby wagte nicht zu hoffen, daß sie Streit mit Stacy gehabt hatte; wahrscheinlich war sie niedergeschlagen, weil sie daran verzweifelte, die Zustimmung ihrer Familie zu ihrer geplanten Verlobung zu gewinnen. Vielleicht würde es Oliver gelingen, sie aus ihrem Trübsinn zu locken. Vielleicht hatte Lavinia, die es noch nicht gelernt hatte, mit ihren Vertraulichkeiten denjenigen gegenüber, die sie liebte, zurückzuhalten, Oliver die Geschichte von Fannys Verliebtheit erzählt, und vielleicht wagte er es sogar, ihr Rat anzubieten. Abby zweifelte nicht, daß es guter Rat wäre und Fanny auf den Rat eines Mannes, mit dem sie auf freundschaftlichem Fuß stand, bereitwilliger hören würde als auf den einer Tante.
Oliver kannte die Geschichte wirklich, aber der einzige Rat, den er gab, war an seine Schwester gerichtet. Er hatte ihren sentimentalen Ergüssen schweigend zugehört und enttäuschte sie, da er ruhig sagte, als sie fertig war: »Lavvy, du solltest nicht weitererzählen, was Fanny dir anvertraut.«
»O nein! Nur dir – und natürlich Mama!«
»Nun, Mama vielleicht, aber nicht mir. Ich habe es nur zugelassen, weil ich bereits von Mama wußte, daß Fanny eine – eine Zuneigung gefaßt hat, die ihrer Tante mißfällt, und weil ich mir vorstelle, daß du sehr mit ihr sympathisierst.«
»Ja, wirklich!« sagte sie ernst. »Es ist denkbar rührend, denn sie verliebten sich ineinander, als sie einander zum erstenmal begegneten. Er ist außerdem so schön und hat etwas derart Vornehmes an sich! Und bloß weil er nicht den Vorteil hat, vermögend zu sein – als bedeutete das etwas, wenn Fanny sich im Reichtum einfach wälzt!«
»Das ist es nicht«, unterbrach er sie und zögerte etwas. »Nicht ganz das.«
»Oh, du denkst daran, daß er früher sehr ausgelassen und verschwenderisch war, aber – «
»Nein, Lavvy, das nicht. Ich weiß nichts über ihn, außer daß – « Wieder zögerte er; als sie ihn verblüfft fragend ansah, sagte er mit einiger Schwierigkeit: »Weißt du, er ist kein Halbwüchsiger mehr und kein Grünschnabel. Er muß ein Dutzend Jahre älter als Fanny sein und ist noch dazu ein welterfahrener Mann.«
»Ja!« sagte Lavinia begeistert. »Jeder Mensch kann sehen, daß er höchste Klasse ist, was es ja so besonders romantisch macht, daß er sich in Fanny verliebt hat! Ich will nicht sagen, daß sie nicht hinreißend hübsch wäre, denn das ist sie, aber ich glaube, es muß doch Dutzende mondäner Londoner Mädchen geben, die nach ihm angeln, nicht?«
»Höre, Lavvy!« sagte er. »Die Sache ist die, daß er sich nicht benommen hat, wie es sich gehört! Ein Ehrenmann beschwätzt ein Mädchen nicht, sich heimlich mit ihm zu treffen, und er überfällt es nicht mit der Schicksalsfrage, ohne um Erlaubnis des Vormunds zu bitten!«
»Oh, Oliver, du wiederholst, was Mama sagt! Wie kannst du so muffig sein? Als nächstes wirst du sagen, daß Fanny nachgiebig warten soll, bis ihr Vormund sie einem Mann seiner Wahl schenkt.«
»So etwas kann ich gar nicht sagen. Aber ich sage dir folgendes, Lavvy: Wenn Calverleigh dich zum Gegenstand seiner heimlichen Aufmerksamkeiten gemacht hätte, dann würde ich ihn niederschlagen!«
Erschrocken und ziemlich beeindruckt sagte sie: »Heiliger Himmel! Das tätest du? Also ich muß schon sagen!«
»Nun, ich würde es jedenfalls versuchen«, sagte er lachend. »Das täte jeder Mann.«
Sie sah nicht völlig überzeugt drein. Er legte den Arm um sie und zog sie brüderlich an sich. »Es steht mir nicht zu, mich einzumischen. Dazu habe ich kein Recht. Aber du wärst Fanny eine schlechte Freundin, wenn du nicht den Versuch machtest, sie zu überreden, sie solle nichts Unbesonnenes tun. Das ist der Weg, der durch Tränen zurückführt.«
Mehr hatte er nicht gesagt, und wieviel davon Fanny wiedererzählt wurde, konnte er nicht wissen, da er
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