Die galante Entführung
sitzen. Sie stimmte bereitwillig zu, und sein Herz schmolz, als sie rasch besorgt zu ihm aufsah und sagte: »Natürlich tun wir das, wenn du nicht lieber zum ›Schwan‹ zurückgehen möchtest? Es gibt nichts Ermüdenderes als Kathedralen! Du bist schon erschöpft, nicht wahr?«
»Ich versichere dir, nein – oder nur ein bißchen!« antwortete er. »Aber ich glaube, ich würde erschöpft sein, wenn ich in der ganzen Kirche herumgehen müßte. Denn dann müßte ich stehen und Grüfte, Gitter und Fenster ansehen. Ich weiß nicht, wieso, aber stehen kann ich noch nicht, obwohl ich beim Gehen schon mit den Besten von euch Schritt halten kann.«
»Nun, du sollst eben nicht stehen. Falls es nicht zu kühl für dich ist, setzen wir uns an den Burggraben und sehen den Schwänen zu. Und sollte dich Tante Abby fragen, was du von den Figuren an der Westfront hältst, dann kannst du sagen, daß du noch nie so etwas wahrhaft Köstliches gesehen hast. Das wäre nicht einmal ein Schwindel, meinst du nicht auch?«
Seine Augen waren voll zärtlichen Vergnügens; er sagte ernst: »Nein, nur suggestio falsi! Muß ich sie gesehen haben?«
»Heiliger Himmel, nein! Es sind Reihen um Reihen von ihnen vorhanden!«
»In dem Fall bin ich bereit, so viele Schwindeleien zu sagen wie nötig – sogar eine faustdicke Lüge!«
Sie lachte und schwieg dann ein, zwei Minuten. Er machte keinen Versuch, in ihre Geistesabwesenheit einzubrechen, und gleich darauf schien sie sich ja auch wieder zu besinnen und begann mit einem leichten Alltagsgeplauder, wie eine Gastgeberin, die einen schwierigen Gast zu unterhalten sucht. Es war offenkundig anstrengend für sie, und er unterbrach sie, indem er unwillkürlich sagte: »Ach, nicht, Fanny!«
Erschrocken sah sie schnell zu ihm auf, eine Frage in den großen Augen. »Was – nicht?«
»Halte dich nicht für verpflichtet, Konversation zu machen. Damit behandelst du mich nicht so, als wäre ich dein Bruder!«
»Oh -!« Sie errötete und wandte den Kopf ab.
»Hast du Kummer?« fragte er sanft.
»Nein – o nein! Natürlich nicht! Schau, dort sind zwei Schwäne. Wenn wir doch bloß Brot mitgenommen hätten, um sie zu füttern! Ich glaube, Schwäne sind wirklich die schönsten Vögel der Welt, nicht? Oder hast du Pfaue lieber?«
»Nein«, erwiderte er schroff und führte sie zu einer bequem gelegenen Bank. Als er sich neben sie setzte, sagte er: »Was ist los, Fanny? Sag ja nicht, du seist nicht niedergeschlagen! Das wäre nämlich eine Lüge – eine plumpe, faustdicke Lüge!«
Sie lachte nervös auf. »Es ist nichts. Nun ja, nicht sehr viel. Nur, daß ich mit Abby über Kreuz bin – das heißt, nicht gerade über Kreuz, aber – « Sie schwieg, und ihre Augen verdunkelten sich. »Ich dachte – aber die Menschen – die Erwachsenen – « sagte sie und verriet damit ihre Jugend, »verstehen einfach nicht. Ihnen liegt nur an Ansehen und Anstand und Ehrbarkeit und – und Passendem. Wenn man etwas tun will, dann sind sie dagegen und sagen, man sei viel zu jung und würde es sehr bald wieder vergessen.«
»Ja, und auch, daß man ihnen eines Tages dafür noch dankbar sein wird!« stimmte er mitfühlend zu. »Und das Schlimmste daran ist, daß sie meistens recht haben.«
»Nicht immer!«
»Nein, aber gräßlich oft.«
»Wenn du einmal so alt sein wirst wie ich – «, sagte Fanny in verbitterter Parodie.
»Erzähl mir nicht, daß Miss Abigail je so etwas Abscheuliches.geäußert hätte!«
»Nein. Nein, das hat sie nicht, aber sie versetzt sich nicht in meine Gefühle, und ich dachte, das würde sie tun. Ich habe nie auch nur irrt Traum gedacht, daß sie genauso wie mein Onkel ist! Weltklug und -und voller Vorurteile. Sie glaubt, es sei nicht wichtig, wenn man unglücklich ist, solange man nichts tut, was ein gräßlicher Onkel nicht billigt!« Sehr empört fügte sie hinzu: »Und dabei mag sie ihn gar nicht!«
Eine Zeitlang sagte er nichts, sondern saß da und starrte stirnrunzelnd auf die feste Mauer jenseits des Burggrabens. Fanny zog ein Taschentuch aus dem Retikül und schneuzte sich trotzig. Oliver holte entschlossen Atem und sagte, sorgfältig die Worte wählend: »Wenn jemand, der dir sehr lieb ist – wie du es Miss Abigail bist –, einen deiner Meinung nach falschen Schritt tut, dann mußt du doch versuchen, es zu verhindern, meinst du nicht auch?«
»Ja, aber ich tue keinen falschen Schritt!« erwiderte Fanny. »Und ich bin alt genug, um zu wissen, was ich will. Das habe ich immer
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