Die galante Entführung
sein, und sah sich nervös um, in der Angst, jemanden Bekannten zu sehen. Es war natürlich nicht sehr wahrscheinlich, daß ein Bewohner von Bath zu einer Stunde in der Abtei anzutreffen war, in der kein Gottesdienst abgehalten wurde, aber man konnte ja nicht wissen, ob vielleicht jemand einen Gast hatte, der sie zu besuchen wünschte. Fanny flüsterte: »O bitte, Vorsicht!«, und entzog ihm ihre Hände. »Wenn man mich erkennt! Ich bin ja so nervös! Ich glaube nicht, daß mich jemand unterwegs sah, aber wie kann man dessen sicher sein? Die Grimston ging mit mir zu Miss Timble und wird mich später bei Mrs. Grayshott abholen, aber, o Stacy, ich mußte bei Miss Timble so tun, als hätte ich den Tag für meine Gesangstunde verwechselt, und ich kam mir dabei als ganz elende Person vor!«
»Kein Wunder!« stimmte er ihr herzlich zu. »Es ist unerträglich, daß wir gezwungen werden, zu Ausflüchten zu greifen. Ich empfinde das genauso unangenehm wie du, Geliebte! Seit jedoch deine Tante nach Bath zurückgekehrt ist, wurde mir keine Gelegenheit gewährt, auch nur fünf Minuten mit dir allein zu sein. Wie kann ich bei einem Konzert oder in einem Ballsaal mit dir sprechen? Und ich muß einfach mit dir sprechen!«
»Ja – o ja! Ich habe mich so danach gesehnt, bei dir zu sein! Wenn ich bloß einen Schleier hätte! Wer sind diese Leute dort drüben?«
»Nur ein paar Ausflügler!« antwortete er beruhigend. »Hab keine Angst, mein Süßes! Es ist niemand hier, der dich kennt. Wir setzen uns dort drüben hin, wo es dunkel ist, und an diesem Platz gibt es nichts Interessantes, das Ausflügler anlocken könnte. Daß ich gezwungen bin, mir eine Zusammenkunft mit dir zu stehlen! Es ist für mich wirklich das Abstoßendste, aber was habe ich für eine andere Möglichkeit? Nur eine – ganz auf dich zu verzichten, und das ertrage ich einfach nicht.«
»Stacy, nein!« sagte sie atemlos und packte seinen Arm.
Er legte seine Hand auf die ihre und hielt sie fest. »Ich werde die Unterstützung deiner Tante nie gewinnen – das hat sie mir nur allzu deutlich klargemacht! Sie wird dafür sorgen, daß wir einander nie sehen, außer in Gesellschaft, oder so wie heute. Liebste, wie können wir in dieser Weise weiterkommen?« Er nahm Fannys Hand und drückte Küsse in ihre Handfläche. »Wenn du wüßtest, wie ich mich sehne, dich in meine Arme zu nehmen, dich mein eigen zu nennen!«
»Das will ich auch«, sagte sie schüchtern.
»Dann komm fort mit mir, wie wir es planten! Wagst du, der Welt ein Schnippchen zu schlagen? Sag!«
»Ja, und ob!« erwiderte sie mit blitzenden Augen.
»Wie werde ich je imstande sein, dir zu beweisen, wie sehr ich dich anbete? Machen wir Schluß mit dieser verhaßten Situation, in die man uns hineingetrieben hat, und laß es uns so bald wie möglich tun! Morgen!«
»Morgen?« wiederholte sie starr. »O nein, Stacy! Ich – das könnte ich nicht. Ich meine, das ist zu bald!«
»Dann also übermorgen!«
In diesem Augenblick begann Fanny den Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit zu erkennen. Sie schüttelte den Kopf und sagte flehend: »Ich wollte, ich könnte, aber – du verstehst nicht ganz, Stacy! Es wäre zu schwierig. Ich muß mich um so viele Dinge kümmern!«
»Es muß aber bald sein!« drängte er. »Du kannst mir jeden Augenblick entrissen werden! Ich habe den Verdacht, daß deine Tante es bereits in Betracht zieht. Sollte das geschehen, dann ist es aus mit uns!«
»Nein, das wäre es nicht!« wandte sie ein. »Außerdem denkt sie gar nicht daran. Wie könnte sie auch, wenn wir doch nächste Woche eine Abendgesellschaft geben? Und das ist ein weiterer Grund, warum ich unmöglich sofort davonlaufen kann. Bestimmt hast du nicht daran gedacht, aber – «
»Was gehen mich Abendgesellschaften an?!« rief er aus. »Unser Glück steht auf dem Spiel!«
Fanny hatte nichts gegen Mr. Calverleighs dramatische Aussprüche einzuwenden, denn sie waren den leidenschaftlichen Reden ihrer Lieblingshelden in den Romanen sehr ähnlich, aber hinter ihren Phantasiebildem lag doch ein starker Zug gesunden Menschenverstandes. Sie antwortete daher mit einem erschreckend praktischen Sinn: »Nein, nein! Wie sollte es denn? Es bedeutet nur eine kleine Verzögerung.«
»Nur -! Wenn jede Stunde, die ich fern von dir bin, mir als eine Woche erscheint, und jede Woche als ein Jahr!«
Da sie keine Arithmetikerin war, fand sie an dieser mathematischen Progression nichts auszusetzen. Das solcherart ausgedrückte
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